Читать книгу Gustav Klimt. Zeit und Leben des Wiener Künstlers Gustav Klimt - Patrick Karez - Страница 5

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Er schloß die Augen. Prompt erschienen sie. In einem wahren Strudel. Aus Menschenleibern. Rote. Blonde. Brünette. Schwarzhaarige. Aber vor allem Rote. Ja. Das war es. Rote. Er führte seine Hand hinab. Viel war noch nicht da. In diesen frühen Tagen. Es würde aber noch kommen. Dessen war er sich sicher. Behutsam strich er über den Flaum. Dieser war erst vor kurzem erschienen. Wie durch Geisterhand. Etwa zeitgleich. Mit dem ersten Flaum. An seinem Kinn. Wie seltsam, daß das Gesicht, das Alleröffentlichste, sich ausgerechnet parallel zum Genital entwickelt, dachte er, dem Allerintimsten. Dem Verstecktesten. Dem Verbotensten. Dem Unaussprechlichen. Künftig würde er sie in einem völlig neuen Licht betrachten. Die Bärte. Und Bartansätze.

Bei den Frauen. Verhielt es sich diesbezüglich völlig anders. Da waren es die Brüste, die Aufschluß über die sexuelle Reife gaben. Aber viel war von ihnen nicht zu erhaschen. In diesen Tagen. Als die Frauen sich noch verhüllten. Verschleierten. Regelrecht verpackten. So daß man nichts von ihnen zu Gesicht bekam. Außer ihrem Gesicht eben. Nicht einmal die Handgelenke. Geschweige denn das Décolleté. Oder gar die Fesseln. Frauen. Diese seltsamen Wesen. Zauberhaft. Und geheimnisvoll. Überall waren sie anzutreffen. In diesen Tagen. Und dann doch auch wieder nicht. Sie führten ein Schattendasein. In dieser Gesellschaft. Die ganz und gar den Männern vorbehalten war. In diesen Tagen. Waren es die Frauen auch. Rote. Blonde. Brünette. Schwarzhaarige. Aber vor allem Rote. Ja. Das war es. Rote.

Seine Finger wanderten nun tiefer hinab. Sie waren sehr geschickt. Diese Finger. Die ganz und gar jenen der Primaten glichen. Dieser verrückte Darwin hatte es unlängst behauptet. Mensch und Affe seien praktisch dasselbe. Ausgelacht hatte man ihn. Und ausgebuht. Schockiert war man gewesen. All diese noblen Herren. In ihren Fräcken. Und Zylindern. Mit ihren goldenen Taschenuhren. Und den weißen Seidenhandschuhen. Und die Damen erst! Mit ihren wagenradgroßen Hüten. Ihren Sonnenschirmchen. Ihren Krinolinen. Und Tournuren. Affen! Welch Hohn! Und doch. Der Flaum. Verriet es.

Unlängst hatte er es mit eigenen Augen gesehen. Auf einer Photographie. Auf einer verbotenen Photographie. Der darauf abgelichtete Mann hatte Haare gehabt. Wie ein Hund. Auf dem Handrücken. Auf den Armen. Auf den Beinen. Auf der Brust. Und sogar auf dem Rücken. Seine Freunde hatten lauthals darüber gelacht. Ihn hatte es jedoch irgendwie erregt. Und abgestoßen. Zugleich. Hatte dieser Mann auf der Photographie einem Affen gar nicht mal so unähnlich geschaut.

Und nun wurde er allmählich selbst zu einem. Rund um seine Warzenhöfe. War ebenfalls Flaum erschienen. Und er würde stärker werden. Dessen war er sich sicher. Nein. Er wünschte es sich sogar. Er selbst wollte ebenfalls zu einem Affen werden. Zu einem Mischwesen. Einer Chímaira. Aus Mensch. Und Affe. Einem Affenmenschen. Einem Menschenaffen. Einem Tiermenschen. Einem Menschentier. Einem modernen Faun. Einem darwinistischen Satyr.

Er würde dieses ganze verlogene Spiel nicht mitmachen. Er verachtete bereits jetzt schon die lächerliche Maskerade seiner Gesellschaft. Niemals würde er selbst einen Zylinder tragen. Dachte er. Und einen Frack schon gar nicht. Er würde nackt sein. So oft es eben nur möglich war. Er würde nackt arbeiten. Oder nur mit einem leichten Baumwollhemd bekleidet. Oder besser noch: Mit einer Kutte. Wie die Urmenschen. Wie die Eingeborenen. In fernen Ländern. Ja. Die waren der Natur noch viel näher als wir. Hier. In Europa. Dachte er. In dieser verlogenen Gesellschaft. Wo man sich für seinen Körper schämte. Wo man sich für sein Menschsein schämte. Beziehungsweise. Für seinen animalischen Ursprung. Und dabei war es doch nur die natürlichste Sache der Welt. Da war er mit Darwin einer Meinung.

Er würde Tabus brechen. Wie Darwin. Nur eben auf einem anderen Gebiet. Denn das Reisen war nicht so seine Sache. Er war ein heimatverbundener Mensch. Ein erdverbundener Mensch. Ein Mensch. Wie ein Stier. Mußte er stets mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen. Die Erde spüren können. Sie riechen und berühren können. Und die Bäume. Und das Wasser. Und die Berge. Ja. Hier. Im wunderschönen Österreich. Im schönweibigen Wien. Da war er zu Hause. Hier hatte er alles. Was sein Herz begehrte. Warum also abschweifen? Wozu in ferne Länder? Was würde er in Afrika oder in Amerika schon finden können, was er nicht auch hier finden konnte? Schließlich liegt doch die Lösung zu allem in einem selbst. Dessen war er sich sicher. Man müßte es bloß befreien. Es aus sich selbst herausholen. Es herauskitzeln. Es ans Licht befördern. Aus dem Dunkel. Aus jenem Dunkel, das die Gesellschaft und die Kirche über die Dinge legten. Über die natürlichsten Dinge der Welt. Wie zum Beispiel die Nacktheit. Und die Sexualität. Das Menschsein. Das Einssein. Mit der Natur. Ob sie nun Gottes Natur war. Oder Darwins.

Er dachte an die Rothaarige. Und seine Finger schlossen sich zur Faust. Wohlige Schauer liefen seinen Rücken hinunter. Und wieder hinauf. Ein wahrlich elektrisches Gefühl. Von dem jeder sprach. In diesen Tagen. Überhaupt sprach man von nichts anderem mehr. In diesen Tagen. Beziehungsweise. In einigen Jahren.

Darwin. Edison. Marx. Und Freud.

Evolutionstheorie. Elektrizität. Sozialismus. Und Psychoanalyse.

(Und somit auch von der Sexualität.) Die vier neuen Grundpfeiler. Einer völlig neuen Gesellschaft. Dessen war er sich sicher. Einerseits. Entfernten sie den modernen Menschen rasant vom Affesein. Andererseits. Brachten sie ihn diesem auch wieder näher. So nah. Wie schon seit dem Neolithikum nicht mehr. (Die Elektrizität einmal ausgenommen.) So dachte er zumindest. Und er würde es noch. In einigen Jahren.

Das, was er nun an sich tat, war laut der alten Gesellschaft eine Sünde. Es war verboten. Und böse. Es war verboten. Weil es böse war. Und dabei war es doch die natürlichste Sache der Welt. Die älteste Sache der Welt. Wie er meinte. Er würde sein ganzes Leben danach ausrichten. Er würde Konventionen brechen. Sie sprengen. Und er würde daran zugrunde gehen. Auch dessen war er sich sicher. Allmählich. War sein ganzer Körper von diesem elektrischen Gefühl erfüllt. Er spürte regelrecht das Göttliche daran. Und das Animalische. Blind werden würde man davon. Angeblich. Und an Rückenmarkschwund erkranken. Man würde zappelig werden. Ungeduldig. Und schließlich debil. Nun, so dachte er, lieber debil, als sich diesen Spaß entgehen zu lassen! Diesen teuflischen Spaß. Der doch so göttlich war. Denn das war der Mensch in seinen Augen. Die perfekte Mischung. Aus Gott. Und Tier.

Nur war es eben das Problem des Menschen seiner Zeit, so dachte er weiter, daß er das Tier in sich zur Gänze verleugnete. Und in allen Dingen Gott nachstrebte. Denn das entsprach dem Menschen nun mal nicht. Beziehungsweise. Nur zum Teil. Nur die perfekte Mischung aus beidem, würde zur Glückseligkeit führen. Wobei noch eher das gänzliche Tiersein zum Heil führen würde. Debil. Und triebhaft. Wie die Schimpansen. Im Tiergarten. Ja. So wollte er leben. Und er wollte es allen vormachen. Man würde ihn hassen. Aber man würde ihn auch beneiden. Denn er allein fand den Mut, so zu leben, wie er selbst es für richtig hielt. Und Gottes Strafe, die interessierte ihn nicht. Denn er glaubte nicht daran.

Allmählich spürte er den Höhepunkt seiner elektrischen Anspannung kommen. Die Entladung. Nach der statischen Aufladung. Er war kurz davor.

„Gustav!“, hörte er plötzlich seine Mutter rufen.

Sofort lagen seine Hände wieder über der Bettdecke.

„Wo bleibst du denn nur?“ Allmählich näherten sich ihre Schritte dem Zimmer. „Du wirst noch zu späth zur Schule kommen!“

Mit einem Mal waren sie fort. Die Frauen. Diese herrlichen Geschöpfe. Aus seiner Phantasie. Rote. Blonde. Brünette. Schwarzhaarige. Aber vor allem Rote. Nun trat eine aus Fleisch und Blut ein. Sie war auch nicht schlecht. Aber sie war seine Mutter.

„Raus aus den Federn!“, rief sie.

Und noch bevor er irgend etwas tun konnte, riß sie bereits die Tuchent fort. Sofort inspizierte sie ihn mit kritischem Blick. Dann verließ sie wortlos das Zimmer.

Da lag er nun. Bloßgestellt. Abgedeckt. Wie ein Sonntagsbraten. Auf dem Präsentierteller. Dieser Satansbraten. Vermutlich hatte sie es gesehen. Den Fahnenmast. Das Circuszelt en miniature. Das bereits wieder im Begriff war, einfach so in sich zusammenzufallen. Außer Spesen nichts gewesen. Dachte er bitter. Es war ihm nicht einmal peinlich. Intimität gab es ohnehin nicht. In diesem Zimmer. Schliefen neben ihm die Geschwister. Zumindest aber taten sie so. Sie schliefen mehr oder weniger. In Schichten. In Lagen. Aus Stoff. Und Leibern. Wie ein Schichtkuchen. Der nun allmählich zu Leben erwachte. Darüber spannte sich die Wäsche. Sie stapelte sich. Zu allen Seiten des Zimmers. Die Wände entlang. Sieben Kinder. Und zwei Erwachsene. Benötigten schließlich einiges an Wäsche.

Nun begann die Kleine zu schreien. Auch das noch, dachte Gustav. Und erhob sich. Seine Schwester Klara sah ihn an. Sie hatte ganz bestimmt nicht geschlafen. Ihr Blick verriet es. Aber es war ihm egal. Er hatte schließlich auch Bedürfnisse. Wir sind schließlich alle keine Engel, dachte er. Beim Aufstehen stolperte er prompt über den Nachttopf. Gott sei Dank war er leer gewesen. Was für Zustände! Er konnte sich kaum noch an andere erinnern. An die „besseren Zeiten“, welche die Eltern immer wieder mit Wehmut heraufbeschworen. Und unter Tränen. Denn vor allem die Mutter litt scheinbar sehr darunter. Der Vater vermutlich auch. Doch er zeigte es nicht. Schließlich war er ja schuld. Schließlich hatte er ja versagt. Die Wirtschaftskrise sei schuld. Sagte er wiederum. Der Börsenkrach. Die Finanzkrise. Die große Weltausstellung. Die Mißernte. Und so weiter. Und so fort.

Aber nein. Der Vater war schuld. Dessen war Gustav sich sicher. Denn schließlich war er nicht in der Lage, sieben hungrige Mäuler zu stopfen. Neun. Um genau zu sein. Seines und das der Mutter miteingerechnet. Auch sie mußten schließlich Hunger haben. Doch sie zeigten es nicht. Gab es einmal etwas auf dem Tisch, so verzichteten die Eltern darauf. Sie überließen es den Kindern. Gustav hatte also bereits in jungen Jahren lernen müssen, was ein schlechtes Gewissen bedeutet. Das Stück Brot schmeckte unter diesen Umständen weit weniger gut. Manchmal hatte er darauf verzichtet. Und es den jüngeren Geschwistern überlassen. Um dann mit knurrendem Magen zur Schule zu gehen. So auch heute. Dabei mußte er gar nichts überlassen, weil es heute erst gar nichts gab. Nichts. Nicht einmal ein Stück trockenes Brot.

Er stellte es sich einfach in seiner Phantasie vor. Ein Stück frisches, knuspriges Brot. Noch warm. Direkt aus dem Ofen. Vor seinem geistigen Auge wurde es sichtbar. Es war plötzlich da. Und doch stillte es seinen Hunger nicht. Eines Tages, so dachte er, werde ich Brot im Überfluß haben. Ich werde so viel Brot haben, daß ich sogar die Enten damit füttern kann. Und meine Geschwister natürlich gleich mit. Und die Eltern. Der Vater würde dann sehen, daß es auch anders geht. Daß es nicht damit getan ist, lediglich zu jammern. Und anderen die Schuld zu geben. Sondern zu handeln. Ja. Er würde etwas tun. Er würde kein bloßes Opfer sein. Er würde ein schönes Haus haben. Eine Villa vielleicht. Und es würde ihm gut gehen. Frauen würde er haben. So viele er nur wollte. Rote. Blonde. Brünette. Schwarzhaarige. Aber vor allem Rote. Ja. So würde es sein.

„Gustav!“, die energischen Schritte der Mutter näherten sich erneut bedrohlich dem Zimmer, „Ich sage es dir nicht zweimal! Geh lernen! Wissen ist das einzige, das dir in dieser Welt weiterhelfen wird! Wer nicht lernt, der bleibt dumm. Und wer dumm ist, der findet keine Arbeit. Und wer keine Arbeit hat, der hat kein Leben. Also: Wer nicht lernt, der hat keine Zukunft! So einfach ist das. Ich weiß, wovon ich da rede!“

Ja. Ja. Ja.

Bla. Bla. Bla.

Dachte er trotzig. Und verließ das Zimmer.

Gustav Klimt. Zeit und Leben des Wiener Künstlers Gustav Klimt

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