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Mit dem Engel ringen

Manchmal begegnen wir dem Leben zum ersten Mal durch eine Wunde, lernen wir seine Macht und seine Wege durch eine Verwundung kennen. Derart verwundet, finden wir vielleicht eine Weisheit, die es uns besser als alles Wissen ermöglicht, richtig zu leben, und die uns unverhofft eine Wahrheit über uns selbst und unser Leben offenbart.

Eine der letzten Geschichten, die mein Großvater mir erzählte, war die über einem Mann namens Jakob, der eines Nachts, als er an einem Flussufer schlief, plötzlich angegriffen wurde. Er befand sich auf Reisen und der Ort, an dem er Rast machte, um zu essen und sich zum Schlafen niederzulegen, schien sicher zu sein. Doch dem war nicht so. Als er aufwachte, fand er sich in der Umklammerung muskulöser Arme und zu Boden gedrückt. Es war so dunkel, dass er seinen Feind nicht sehen konnte, aber er spürte dessen Macht. Er nahm all seine Kraft zusammen, um sich freizukämpfen.

„War das ein Alptraum, Opa?“, fragte ich hoffnungsvoll. Ich litt damals sehr unter Alpträumen und konnte nur einschlafen, wenn eine Nachttischlampe brannte. Ich rückte näher an meinen Großvater heran und griff nach seiner Hand. „Nein, Neshume-le“, antwortete er mir, „das war ganz wirklich, und es geschah vor langer Zeit. Jakob hörte den Atem des Angreifers, er fühlte das Tuch seines Gewandes, er roch ihn sogar. Jakob war ein sehr starker Mann, aber selbst unter Aufwendung all seiner Kraft konnte er sich nicht befreien oder seinen Feind niederringen. Sie waren einander ebenbürtig und rollten in verbissenem Kampf auf dem Boden hin und her.“

„Wie lange dauerte der Kampf, Opa?“ fragte ich ängstlich.

„Sehr lange Zeit, Neshume-le“, antworte er mir. „Aber die Dunkelheit dauert nicht ewig. Schließlich dämmerte der Morgen, und als es hell wurde, sah Jakob, dass er mit einem Engel gerungen hatte.“

Ich staunte. „Mit einem richtigen Engel, Opa?“ fragte ich nach. „Mit Flügeln?“

„Ich weiß nicht, ob er Flügel hatte, Neshume-le, aber er war ohne Zweifel ein Engel“, erzählte er mir. „Als es hell wurde, ließ der Engel Jakob los und wollte verschwinden, aber Jakob hielt ihn fest. ‚Lass mich gehen‘, sagte der Engel zu Jakob, ‚denn die Morgenröte bricht an.‘ Aber Jakob sagte: ‚Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.‘ Der Engel rang heftig darum, sich zu befreien, aber Jakob hielt ihn fest. Und so gab der Engel ihm seinen Segen.“

Ich war erleichtert. „Ist er dann gegangen, Opa? Ist das das Ende?“ fragte ich. „Ja“, sagte mein Großvater, „aber in dem Kampf wurde Jakob am Bein verletzt. Bevor der Engel verschwand, berührte er ihn an der Stelle seiner Verletzung.“ Das war etwas, das mir einleuchtete; meine Mutter tat das auch oft, wenn ich mich verletzt hatte. „Er wollte ihm helfen, damit es besser wird – nicht wahr, Opa?“ Aber mein Großvater schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, Neshume-le. Er berührte die Stelle, um Jakob daran zu erinnern. Jakob trug das für den Rest seines Lebens mit sich. Es war seine Stelle der Erinnerung.“

Die Geschichte gab mir Rätsel auf. Wie konnte jemand einen Engel mit einem Feind verwechseln? Aber Großvater meinte, so etwas komme ständig vor. „Aber davon mal abgesehen“, sagte er, „das ist nicht der wichtigste Teil der Geschichte. Der wichtigste Teil der Geschichte ist, dass alles, was geschieht, seinen Segen hat.“

In dem Jahr bevor er starb erzähle mir mein Großvater diese Geschichte mehrere Male. Acht oder neun Jahre später, mitten in der Nacht, manifestierte sich die Krankheit, mit der ich nunmehr seit mehr als fünfundvierzig Jahren lebe, auf äußerst dramatische Weise. Ich hatte eine massive innere Blutung. Es hatte keinerlei Vorwarnung gegeben. Ich fiel in ein Koma und lag mehrere Monate im Krankenhaus. Die Dunkelheit und der Kampf dauerten danach noch etliche Jahre an.

Zurückblickend habe ich mich oft gefragt, ob mein Großvater, in hohem Alter und dem Tod nahe, mir diese Geschichte nicht als Richtlinie für mein Leben hinterlassen hat. Es ist eine rätselhafte Geschichte, eine Geschichte über die Natur von Segnungen und die Natur von Feinden. Wie groß ist die Versuchung, den Feind loszulassen und zu flüchten – den Kampf so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und mit dem gewohnten Leben weiterzumachen. So könnte das Leben viel leichter sein, aber auch weniger echt. Vielleicht liegt die Weisheit der Geschichte darin, dass wir uns dem Leben, das uns gegeben ist, so rückhaltslos und mutig wie nur möglich stellen sollten – und nicht loslassen, bevor wir den noch unbekannten Segen finden, der allen Dingen innewohnt.

Aus Liebe zum Leben

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