Читать книгу Aus Liebe zum Leben - Rachel Naomi Remen - Страница 13

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Lots Weib

Enid war eine ältere Frau, deren Ehemann zwei Jahre bevor sie mich aufsuchte ganz unerwartet gestorben war. In sich zurückgezogen und distanziert, hatte sie seitdem die ganze Zeit weder geweint noch mit irgend jemandem über seinen Tod gesprochen. Sie kochte nicht mehr und kümmerte sich nicht mehr um ihr Haus und ihren Garten. Die meiste Zeit saß sie im Bademantel in ihrem Wohnzimmer und starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. Ihr Arzt hatte ihr Antidepressiva gegeben, aber die hatten kein bisschen geholfen, und so hatte sie nach einer Weile einfach aufgehört, sie einzunehmen. „Die bringen ihn mir auch nicht zurück“, sagte sie. Es war eine ihrer Töchter, die sie zu mir brachte und die mir sagte: „An dem Tag, an dem mein Vater gestorben ist, habe ich beide Eltern verloren.“

Anfangs saßen Enid und ich nur schweigend da und sahen uns an. Sie war eine schöne Frau in ihren frühen Siebzigern, aber sie schien so leblos zu sein wie der Stuhl, auf dem sie saß. Es war, als sei sie nur noch die Hülle, die einst ein Leben umschlossen hatte. Sie schien so zerbrechlich, dass ich mich fragte, ob sie wohl die Kraft haben werde, die ganze Stunde durchzustehen.

Ich begann das Gespräch mit der Frage, warum sie zu mir gekommen sei. „Mein Ehemann ist gestorben“, antwortete sie, wobei sie sich von mir abwendete und aus dem Fenster sah. „Meine Töchter möchten, dass ich darüber spreche, aber ich glaube nicht, dass ich das möchte.“ Als ich behutsam nachfragte, warum das so sei, sagte sie einfach: „Reden scheint mir Zeitverschwendung zu sein. Niemand könnte das je verstehen.“

Ich nickte zustimmend. „Ja, natürlich“, sagte ich. „Sie haben Ihr Leben verloren. Nur Ihr Ehemann könnte verstehen, was Sie verloren haben. Nur er wusste, wie Ihr gemeinsames Leben war.“ Bei diesen Worten wendete sie sich mir wieder zu. Ihre Augen waren grau wie ihr Haar. Es lag kein Licht darin. Ich nickte wieder. „Wenn er hier wäre, Enid – was würden Sie ihm sagen?“ fragte ich.

Sie taxierte mich für eine ganze Weile. Dann schloss sie die Augen und begann laut zu ihrem Ehemann zu sprechen und ihm zu erzählen, wie das Leben ohne ihn war. Sie erzählte ihm, wie sie allein an ihre Lieblingsorte ging, allein den Hund Gassi führte, allein in ihrem Bett schlief. Sie erzählte ihm, wie sie hatte lernen müssen, all die kleinen Dinge zu erledigen, um die er sich immer gekümmert hatte, Dinge, von denen sie nie eine Ahnung gehabt hatte. Sie erinnerte ihn an Geschehnisse, um die sonst nur er wusste, Reminiszenzen, die sie mit sonst niemandem geteilt hatte. Und dann begann sie – zum ersten Mal seit seinem Tod – zu weinen. Sie weinte lange Zeit.

Als ihr Tränenfluss versiegt war, fragte ich sie, ob da noch irgend etwas sei, das sie nicht ausgesprochen habe. Zögernd erzählte sie mir, wie sehr sie es ihm übelnehme, dass er sie verlassen habe und sie nun allein alt werden müsse. Es fühlte sich für sie so an, als habe er ein Versprechen ihr gegenüber gebrochen. Sie vermisste ihn entsetzlich, ihn und all das, was er in ihr Leben gebracht hatte.

„Er war ein Lehrer der Liebe für mich“, erzählte sie mir. Selbst das Kind ziemlich rigider und misstrauischer Menschen, war sie überwältigt gewesen von der Selbstlosigkeit ihres Ehemannes, seiner Bereitschaft, anderen die Hand zu reichen, selbst völlig Fremden. Sie erzählte mir eine Geschichte nach der anderen über seine Großzügigkeit, seine Freundlichkeit, und ihre Augen sahen dabei durch mich hindurch in die Vergangenheit. „Herbert ging immer den einen Schritt weiter als andere“, sagte sie. „So viele Menschen liebten ihn.“

Ich war tief berührt von Herbert und von der Frau, die er geliebt hatte. „Enid“, fragte ich sie, „wenn Herbert jetzt hier wäre – was würde er Ihnen wohl über die Art und Weise sagen, wie Sie die letzten beiden Jahre verbracht haben?“ Überraschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Nun ja, er würde sagen: ‚Enid, warum hast du zu meinem Gedächtnis ein Denkmal des Schmerzes aufgebaut? Ging es nicht in meinem ganzen Leben um die Liebe?‘ “ Sie hielt inne. Dann sah ich zum ersten Mal die Andeutung eines Lächelns in ihrem Gesicht. „Vielleicht gibt es ja andere Weisen, an ihn zu denken“, sagte sie.

Dann sagte sie mir, sie habe immer das Gefühl gehabt, sich an Herberts Gedächtnis zu vergehen und den Wert seines Lebens irgendwie zu schmälern, wenn sie ihren Schmerz losließe. Sie sähe nun, dass sie ihn in der Tat betrogen habe, aber gerade indem sie an ihrem Schmerz festgehalten und ihr Herz verschlossen habe. Sie kam nie wieder zu mir in die Praxis. Herbert hatte ihr alles gesagt, was sie hören musste.

Nach jedem großen Verlust müssen wir uns wieder neu für das Leben entscheiden. Um das tun zu können, müssen wir zuerst trauern. Der Schmerz, über den wir nicht getrauert haben, wird immer zwischen uns und dem Leben stehen. Wenn wir nicht trauern, dann bleibt ein Teil von uns in der Vergangenheit gefangen, so wie Lots Weib, das zur Salzsäule erstarrte, weil sie sich umwendete.

Beim Trauern geht es nicht darum, zu vergessen. Wenn wir trauern, dann können wir vielmehr unseren Schmerz heilen, wir können mit Liebe zurückdenken anstatt mit Schmerzen. Es ist ein Prozess des Aussortierens. Wir lassen eins der Dinge, die vergangen sind, nach dem anderen los, und wir trauern dabei darum. Und Stück für Stück nehmen wir die Dinge wieder in die Hand, die ein Teil von uns geworden sind, und bauen etwas Neues auf.

Etwa ein Jahr nach unserer Begegnung sandte Enid mir einen Zeitungsausschnitt aus dem Lokalblatt zu. Darin war die Rede von einer Gruppe von Witwen, welche Enid mit dem Ziel organisiert hatte, älteren Menschen bei den Dingen zu helfen, die sie nicht mehr selbst in ihrem Haushalt erledigen konnten. Dem Ausschnitt lag kein Brief bei, nur ein in einem Atemzug zu lesendes Gedicht, das sie auf einen Zettel geschrieben und signiert hatte: „Trauer. / Ich lichte den Anker / und hisse das Segel.“

Aus Liebe zum Leben

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