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Die Würze des Lebens

Im Jahre 1944, als ich beinahe sieben Jahre alt war, fand ich ein Buch meines Onkels Frank über die Physiologie der Geschlechtsorgane. Mein Onkel war Allgemeinarzt, und das Buch war ein medizinisches Standardlehrbuch. Der Text war viel zu schwierig für mich, aber die Bilder waren so eindeutig, dass selbst eine Sechsjährige sie verstehen konnte. Was sie zeigten, erstaunte mich sehr. Ich riss mehrere Seiten aus dem Buch heraus und nahm sie mit in die Schule, um sie meinen Freundinnen und Freunden zu zeigen. Wir waren im ersten Schuljahr.

So wurde meine Mutter denn eines Tages mitten in ihrem Arbeitstag vom Direktor der Schule einbestellt, und ich musste allein auf einer Bank vor seinem Büro warten, bis sie eintraf. So etwas war zuvor noch nie passiert, und ich fühlte mich ziemlich schlecht. Meine Mutter war Krankenschwester und ich konnte nicht verstehen, warum sie diese wichtige Arbeit unterbrechen und auf der Stelle zur Schule kommen musste.

Bald nachdem sie eingetroffen war, wurde klar, was los war. Der Direktor war äußerst verärgert über mich. Er führte uns beide in sein Büro, erzählte meiner Mutter, was ich getan hatte, und verlangte, dass ich mich bei den Kindern entschuldigte, denen ich die Bilder gezeigt hatte, und dass meine Mutter schriftlich bei ihren Eltern um Verzeihung bat. Er verlangte zudem, dass ich bestraft würde.

Der Ton in seiner Stimme machte mir Angst, aber meine Mutter ließ sich nicht im geringsten einschüchtern. Sie forderte den Direktor auf, ihr genau zu erklären, was ich denn falsch gemacht hätte. Mit bebender Stimme befahl er mir, zu erzählen, was ich meinen Klassenkameraden erzählt hatte. Meine Mutter hörte meiner sehr einfachen Beschreibung des Geschlechtsverkehrs zu und sah sich die Bilder an, die ich den anderen Kindern gezeigt hatte. Dann schaute sie den Direktor an und sagte mit völlig ruhiger Stimme: „Ich sehe nicht, wo das Problem liegt. Es stimmt doch alles, oder?“ Hinterher verlangte meine Mutter, dass ich mich bei meinem Onkel dafür entschuldigte, dass ich die Seiten aus seinem Buch herausgerissen hatte. Als er von der ganzen Geschichte erfuhr, lachte er lauthals.

Aber auch wenn der Vorfall meiner Familie überhaupt nichts auszumachen schien, fühlte ich mich davon doch auf eine Weise beschämt, über die ich nicht leicht zu sprechen vermochte. Wenn ich nichts falsch gemacht hatte, warum war der Direktor dann so wütend? Meine ganze Familie schien darüber Bescheid zu wissen. Ich vermutete, dass man auch meinem Großvater davon erzählt hatte, und ich war sicher, dass auch er noch nie von solchen Dingen gehört hatte. Zum ersten Mal traute ich mich nicht, ihm Fragen zu stellen, und war sehr traurig darüber.

Einige Wochen nach dem Vorfall in der Schule hatten er und ich eine Diskussion über den Sabbat, den Tag, an dem der Mensch auf Anordnung Gottes nicht arbeiten soll. An diesem Tag sollen die Menschen alle Belastungen, Kümmernisse und Sorgen als eine Person abwerfen – wie ein Gewand, das zu eng ist – und nach Hause gehen, um mit ihren Lieben und mit Gott zusammen zu sein. „Jeden Tag müssen wir unseren Unterhalt verdienen, Geld für Nahrung und Wohnung zusammenbringen und dafür, dass wir einander helfen können. Das ist harte Arbeit, Neshume-le. Und so belohnt uns Gott jede Woche mit dem Sabbat. Am Sabbat ruhen wir aus“, sagte mein Großvater.

Doch so liefen die Dinge bei mir zuhause nicht, und ich wollte mehr wissen. „Wann ist Sabbat, Opa?“ fragte ich ihn. Er sagte mir, der Sabbat beginne am Freitagabend und ende mit Sonnenuntergang am Samstagabend. Ich dachte eine Weile darüber nach. „Und gibt es am Schluss eine Gutenachtgeschichte?“ fragte ich ihn.

Er lachte. „Nein, Neshume-le, am Schluss gibt es Segnungen und Gebete. Und die Menschen zünden eine besondere Kerze an, die in Wirklichkeit aus drei Kerzen besteht, welche zu einer verflochten wurden.“ Er griff nach einem meiner dicken Zöpfe und hielt ihn mir vors Gesicht. Ich hatte noch nie eine solche Kerze gesehen und fragte mich, ob die Leute sie wohl genauso flochten, wie meine Mutter jeden Morgen meine Haare zu Zöpfen flocht. Ich war fasziniert. „Warum zünden sie diese Kerze an?“ fragte ich ihn. „Das tut man schon seit so langer Zeit, dass unter den Lebenden sich niemand mehr an den Grund erinnern kann“, entgegnete mein Großvater. „Aber ich denke, es soll uns helfen, uns daran zu erinnern, dass wir Gedanken und Gefühle und einen Körper haben und dass alle drei dem Licht der Seele Nahrung geben können.“

Ich dachte eine Weile darüber nach und über das, was er zum Sabbat gesagt hatte. „Sind die Leute sehr traurig, wenn er vorbei ist und sie wieder an die Arbeit gehen müssen?“ fragte ich ihn. Er lächelte mich an und bat mich, ihm die kleine Holzkiste zu bringen, die immer auf dem Schreibtisch seines Studierzimmers stand. Sie hatte die Form eines Schlosses und war vielleicht zwanzig Zentimeter hoch, ein wunderbares Schnitzwerk mit vielen kleinen, offenstehenden Fenstern und Türmchen und kleinen, im Wind flatternden hölzernen Fahnen. Es machte schon Freude, sie bloß anzuschauen. Als ich sie meinem Großvater brachte, fiel mir auf, dass sie süßlich duftete.

Er hielt sie in der Hand, und seine Gesichtszüge wurden ganz still. Für einen Augenblick schien er mir in Gedanken sehr weit weg zu sein. Ich lehnte mich gegen seinen Sessel und wartete. Nach einer Weile sah er mich stillvergnügt an: „Diese kleine Kiste ist voller frischer Gewürze“, sagte er und öffnete sie. Ich konnte den köstlichen Geruch von Zimt erkennen. „Am Schluss des Sabbats wird ein Kästchen mit Gewürzen wie dieses von Hand zu Hand weitergegeben, und ein jeder atmet den Duft der Erde ein.“ Ich war verblüfft. „Aber warum, Opa?“ fragte ich. Er zwinkerte mit den Augen und sagte, dass es den Menschen vielleicht helfen solle, nicht traurig zu sein; dass es sie daran erinnern solle, dass der Sabbat zwar schön und friedlich und heilig ist, dass die Dinge der Welt aber ebenfalls schön und heilig sind.

„Diese Welt besteht nicht nur aus Arbeit, Neshume-le“, sagte er. „Gott hat dem Leben Freude gegeben. Es gibt Freuden wie das Tanzen und Essen und Sehen und Hören, die wir nur hier auf der Erde erfahren können. Und es gibt die ganz besondere Freude, die Menschen einander mit ihrem Körper bereiten.“ Ich sah erschreckt zu ihm auf, und mein Kopf wurde heiß vor Scham. Doch er fuhr fort. Ich war froh, dass er offenbar nichts bemerkt hatte.

„Du weißt doch, wie das ist, wenn du deine Freunde umarmst – wie eure Herzen sich dann treffen? Was für ein süßer Moment das ist? Nun, es gibt noch etwas viel Süßeres. Wenn Erwachsene sich auf eine bestimmte Weise umarmen, dann können ihre Seelen sich treffen.“ Und wieder sah er über mich hinweg wie in weite Ferne. „Diese Freude ist eine der größten Segnungen Gottes, Neshume-le“, sagte er dann mit sehr sanfter Stimme. Auch wenn er nie wieder ein Wort darüber verlor, schmolz damals etwas Graues und Schweres in meiner Seele ganz einfach dahin. Nicht nur mein Großvater wusste um die Dinge in Onkel Franks Buch, sondern Gott wusste auch darum. Dann konnte ja nichts Schlimmes daran sein.

Etwa ein Jahr später starb mein Großvater. Kurze Zeit danach war ich in seinem Studierzimmer und bemerkte, dass das kleine hölzerne Schloss nicht mehr auf seinem Schreibtisch stand. In der allgemeinen Trauer über seinen Tod vergaß ich danach zu fragen, und dann geriet die Holzkiste in Vergessenheit.

Erst viele Jahre spätere lüftete meine Mutter das Geheimnis der Holzkiste, als sie selbst schon in hohem Alter war. Sie schwelgte in Erinnerungen an ihre Kindheit und sprach über ihre Mutter, meine Großmutter Rachel. Sie erzählte mir, dass Rachel eine sehr schöne Frau gewesen sei und dass mein Großvater sie während ihrer gesamten Ehe inbrünstig geliebt habe. „Aber er hat nie von ihr gesprochen“, sagte ich.

„Nein“, sagte sie. „Er war ein sehr verschwiegener Mensch.“

Ihre Eltern hatten ihr Eheleben im Einklang mit den Gesetzen des orthodoxen Judentums gelebt. Für zwei Wochen eines jeden Monats schläft ein Ehepaar zusammen im selben großen Bett. Für zwei Wochen nach Einsetzen der Menstruation der Frau schläft sie allein in einem kleinen Bett am Fußende des Ehebetts. Am Ende dieser Zeit der Trennung geht sie zusammen mit anderen Frauen zum Mikva, dem zeremoniellen Bad, wo sie sich erneuert, indem sie im lebendigen Wasser badet und dabei Gebete spricht. Noch in derselben Nacht schläft sie wieder in den Armen ihres Ehemannes.

Wenn sie vom Bad zurückkehrte, um die körperliche Seite ihrer Ehe wieder aufzunehmen, dann hatte meine Großmutter ein für ihresgleichen übliches Problem. Das orthodoxe Gesetz verbat es ihrem Ehemann, sie direkt anzuschauen, und sowohl ihre Religion als auch ihre viktorianische Moral machten es ihr unmöglich, von Sexualität zu sprechen. Die Augen meiner Mutter trafen meine. „Also fanden die Frauen ihrer Generation Mittel und Wege, ihre Ehemänner wissen zu lassen, dass sie wieder zusammensein konnten“, sagte sie.

Wenn meine Großmutter am Abend vom Mikva nach Hause kam, dann ging sie in das Studierzimmer, wo mein Großvater wie gewöhnlich tief in das Studium des Talmud oder der Kabbala vertieft war. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie dann die Gewürzkiste von ihrem gewöhnlichen Platz im Regal und stellte sie neben seine Hand auf den Schreibtisch. Ich konnte mir meinen Großvater als jungen Mann vorstellen, wie er, ohne seinen Blick von den heiligen Büchern zu heben, in sich hinein lächelte. „Wenn er seine Studien beendet hatte, dann kam er herauf in ihr Schlafzimmer und brachte die Gewürzkiste mit“, sagte meine Mutter zärtlich. „Wir Kinder wussten dann Bescheid.“

Tief berührt, sah ich meine Mutter an. „Sah sie aus wie ein kleines Schloss, Mama?“ fragte ich sie. Sie lächelte und nickte. Ich erzählte ihr, dass ich mich erinnerte, sie auf dem Schreibtisch meines Großvaters gesehen zu haben, als ich noch klein war, und ich fragte sie, was daraus geworden sei. Sie warf mir einen jener Blicke zu, die nur Frauen austauschen. „Sie ist bei deinem Großvater“, sagte sie. „Er wollte, dass wir ihn mit ihr beerdigen.“

Meine Großmutter war relativ jung gestorben, noch bevor ich geboren wurde. Sie hatte meinen Großvater fast fünfundzwanzig Jahre mit der Gewürzkiste allein gelassen. Aber nun hatte er seine Studien beendet und war heraufgekommen. Ihre Trennung war beendet, und er konnte wieder in ihren Armen schlafen.

Aus Liebe zum Leben

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