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Seine Hühner zählen

Als sie vierundachtzig Jahre alt und gerade Witwe geworden war, kam meine Mutter aus New York an die Westküste, um bei mir zu leben. Sie war sehr zerbrechlich und litt an einer schweren Herzkrankheit und sie brauchte so viel Fürsorge, dass ich das Gefühl hatte, das nicht mehr bewältigen zu können. Immer wieder hatte sie plötzliche Anfälle von Lungenödemen, eine Art inneres Ertrinken und ich musste sie dann retten, indem ich rotierende Aderpressen an ihren Armen und Beinen anbrachte und ihr Morphium injizierte. Viermal hatte sie in unserem Wohnzimmer einen Herzstillstand. Mit den Besatzungen von Krankenwagen gelang es mir jedes Mal, sie zurückzuholen. Im letzten Jahr ihres Lebens kamen diese guten Leute so oft in unser Haus, dass ich viele von ihnen beim Vornamen kannte.

Es war offensichtlich, dass ihre Zeit fast abgelaufen war, und ich machte mir nicht nur um ihren körperlichen Zustand Gedanken, sondern auch um den Zustand ihrer Seele. Sie war keine religiöse Frau, und wenn sie gewisse Rituale ausführte, dann eher aus einer Art Aberglauben heraus denn als eine spirituelle Praxis. Ich hatte irgendwo gelesen, dass es wichtig sei, alte Menschen dazu zu ermutigen, über ihr Leben nachzudenken, damit sie in Frieden sterben könnten. Ohne ein solches Erinnern sei es nicht möglich, Vergebung zu empfangen und zu schenken, und den Sinn zu entdecken, damit man sein Leben gut abschließen könne. Ich wusste damals noch nicht viel über solche Dinge, aber ich glaubte dem, was ich gelesen hatte, und wollte das Beste für meine Mutter. Doch jeder Versuch, sie dazu zu ermuntern, über ihre Vergangenheit und ihre Beziehungen nachzudenken, wurde von ihr zurückgewiesen.

Einige meiner Freunde übten verschiedene spirituelle Praktiken aus, und ich lud einen nach dem anderen ein, damit sie ihr von ihrem spirituellen Pfad erzählten. Einige von ihnen versuchten sogar, sie für ihren Weg zu interessieren. Sie hörte sich höflich ihre enthusiastischen Darstellungen von Dingen wie Tai-Chi Chuan, Achtsamkeitsmeditation, Yoga oder Vipassanâ an, aber hinterher sagte sie mir, dass Meditation nichts für sie sei. Es sei ihr zu still.

Als ihre Krankheit fortschritt, verfolgte ich meinen Plan mit noch größerer Entschlossenheit. Obwohl ich selbst nicht meditierte, begann ich jeden Morgen für fünfzehn Minuten zu sitzen und lud sie ein, mit mir zu sitzen. Zu meiner Überraschung willigte sie enthusiastisch ein, aber immer, wenn ich die Augen öffnete, sah ich, dass sie mich die ganze Zeit nur liebevoll anschaute. Nachdem das einige Wochen so gegangen war, schlug ich vor, die Sache sein zu lassen, doch sie wollte das nicht. Sie sagte mir, sie freue sich über die Gelegenheit, mich jeden Morgen fünfzehn Minuten lang ansehen zu können. Schließlich gab ich einfach auf.

So war ich überglücklich, als meine Mutter eines Abends nach dem Abendessen im Wohnzimmer seufzte und dann spontan für mehr als eine Stunde die Augen schloss. Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass sie nicht schlief, saß ich die ganze Zeit still mit ihr. Als sie schließlich wieder die Augen öffnete und mich anschaute, fragte ich sie, was sie getan hätte. „Ach, ich habe meine Hühner gezählt“, sagte sie mit einem Lächeln.

Ich muss ziemlich perplex dreingeschaut haben, denn sie lachte und erzählte mir, beim Abendessen (wir hatten Huhn gehabt) sei ihr plötzlich der Gedanke gekommen, dass sie schon seit vielen Jahren ein- bis zweimal in der Woche Huhn äße. Sie habe das im Kopf einmal überschlagen: zwei Hühner pro Woche, zweiundfünfzig Wochen im Jahr, mal vierundachtzig Jahre – das mache mehr als 8.500 Hühner. Das sei doch eine ziemlich große Zahl von Hühnern, habe sie gedacht, nur um eine alte Frau am Leben zu erhalten. Sie hätte die Augen geschlossen, um sich vorzustellen, wie 8.500 Hühner wohl aussehen. Es hätte eine Weile gedauert, aber schließlich hätte sie ein geistiges Bild von ihnen vor sich gesehen. Es sei überwältigend gewesen. „All das unschuldige Leben“, sagte meine Mutter.

Dann hätte sie sich gefragt, ob sie dieses Opfer wohl wert gewesen sei. Also hätte sie begonnen, ihr Leben zu rekapitulieren; sie hätte sich an so viele ihrer wichtigen Beziehungen wie nur möglich erinnert und hätte dabei ihr Herz und ihre Motive befragt. Sie sagte, es hätte ziemlich lange gedauert, aber am Schluss sei ihr klar geworden, dass sie im Lauf ihres Lebens zwar ganz gewiss einige Menschen enttäuscht oder gar verletzt habe, aber so weit sie sich erinnern könne, habe sie niemals jemandem mit Absicht Schmerzen zugefügt. Sie habe auch nie jemand anderem sein Glück missgönnt, habe nie jemanden gehasst, etwas genommen, das ihr nicht gehörte, oder eine wirklich schwerwiegende Lüge erzählt. Sie lächelte mich wieder an und sagte: „Ich glaube, Rachel, ich bin meine Hühner wert gewesen.“

Das Leben besitzt eine Eleganz, die weit über alles hinausgeht, was wir planen können. Vielleicht besteht Weisheit darin, zu wissen, wann man sich zurücklehnen und darauf warten muss, dass es sich einfach entfaltet. Ein zu hastiger Aktionismus könnte zu weniger guten Ergebnissen führen und uns außerdem, was noch gravierender wäre, dazu führen, auf uns selbst zu vertrauen, anstatt zu lernen, dem Leben zu vertrauen.

Aus Liebe zum Leben

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