Читать книгу Aus Liebe zum Leben - Rachel Naomi Remen - Страница 8

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EINLEITUNG ZUM ERSTEN TEIL

Den meisten von uns sind sehr viel mehr Segnungen zuteil geworden, als wir wirklich empfangen haben. Wir nehmen uns nicht die Zeit, uns segnen zu lassen, oder wir schaffen keinen Raum dafür. Manchmal haben wir unser Leben derart mit anderen Dingen vollgestopft, dass einfach kein Platz mehr bleibt, unsere Segnungen auch aufzunehmen. Eine meiner Patientinnen erzählte mir einmal, dass sie geradezu bildlich vor sich sehe, wie wir alle – manchmal für Jahre – von unseren Segnungen umgeben sind, die uns wie Flugzeuge in der Warteschleife eines Flughafens umkreisen, ohne ein Fenster für die Landung zu finden. Sie warten auf einen Moment unserer Zeit, einen Augenblick der Aufmerksamkeit.

Menschen mit einer schweren Krankheit haben oft sehr viele Dinge losgelassen; ihre Erkrankung hat zum ersten Mal in ihrem Leben zu einer Öffnung geführt. Nun mögen sie plötzlich herausfinden, wie sie all die Segnungen empfangen können, die sie erhalten haben, selbst jene, die schon lange Zeit zurückliegen.

Vor vielen Jahren habe ich einmal eine Frau namens Mae Thomas behandelt. Mae war in Georgia aufgewachsen, und während der ganzen Zeit ihres Lebens in Oakland, Kalifornien, hatte sie im Grunde nie den heiligen Bereich ihrer Kindheit verlassen. Sie hatte ihr Leben lang schwer als Putzfrau gearbeitet, um einige Kinder und mehr als einige Enkelkinder aufziehen zu können. Als ich sie traf, war sie bereits alt geworden und schwer an Krebs erkrankt.

Mae feierte das Leben. Ihr Lachen war herzerwärmend. Wenn man sie lachen hörte, wurde man daran erinnert, was es heißt, wirklich zu lachen. Wenn ich nach all den Jahren, die vergangen sind, an sie zurückdenke, muss ich immer noch lächeln. Als ihre Krankheit fortschritt, begann ich sie alle paar Tage anzurufen, um zu hören, wie es ihr ging. Sie antwortete immer auf dieselbe Weise auf meine Frage. Ich sagte: „Mae, wie geht’s denn so?“ und sie antwortete stets: „Ich bin gesegnet, Schwester. Ich bin gesegnet.“

Auch am Abend bevor sie starb hatte ich sie angerufen; ein Familienmitglied brachte das Telefon an ihr Bett. „Mae“, sagte ich, „hier ist Rachel.“ Ich hörte, wie sie hustete, um ihren Hals frei zu bekommen, und nach Atem rang, um in einer vom Krebs angefüllten Lunge genügend Luft zum Sprechen zu finden. Ich spürte, wie sie sich zusammennehmen musste, um durch einen Morphiumnebel hindurch eine Verbindung zu meiner Stimme herzustellen. Mir brannten Tränen in den Augen. „Hallo Mae“, sagte ich, „hier ist Rachel. Wie geht’s denn so?“ Sie machte ein Geräusch, das ich nicht identifizieren konnte, aber dann hörte ich sie mit einem Lächeln in der Stimme sagen: „Ich bin gesegnet, Rachel. Ich bin gesegnet.“ Mae war einer von diesen Menschen. Und vielleicht sind wir alle es auch.

Martin Buber erinnert uns daran, dass einfach nur zu leben bereits etwas Heiliges ist. Einfach nur zu sein ist ein Segen. Wenn Buber recht hat, was hält uns dann davon ab, die Segnungen des Lebens zu empfangen? Es ist nicht immer etwas so Einfaches wie bloßer Zeitmangel. Oft erkennen wir einen Segen nicht, wenn wir ihn erhalten, oder wir haben den Kopf derart voller Gedanken darüber, wie das Leben sein sollte, dass wir das nicht erfahren können, was wir bereits haben. Manchmal bleiben wir in der Vergangenheit stecken oder sind uns der Möglichkeiten in der Gegenwart nicht bewusst. Es kann sogar so sein, dass wir meinen, ein Anrecht auf das zu haben, was uns in Wirklichkeit als Geschenk der Gnade zukommt. Oder wir verrennen uns so sehr in das, was in der Welt schief läuft, dass es uns das Herz bricht. Inmitten all unserer Segnungen können wir uns auf die unterschiedlichsten Weisen leer fühlen.

Wir können andere nur dann segnen, wenn wir uns selbst gesegnet fühlen. Wollen wir das Leben segnen, dann geht es mehr darum, zu lernen, wie man das Leben feiert, und nicht darum, es in unserem Sinne einzurichten. Dazu gehört auch, dass wir das Leben schätzen lernen, wie es ist, und in der Lage sind, vieles im Leben, was wir nicht verstehen, einfach anzunehmen. Das Leben segnen heißt auch, ein Auge für Freude entwickeln. Um die Dinge voranbringen zu können, müssen wir nicht Gericht über sie halten, und unser Zorn mag nicht unbedingt das beste Werkzeug zur Förderung des notwendigen Wandels sein. Viel wichtiger ist eine Haltung der Demut, in der wir wissen, dass wir nicht aufgerufen sind, die Welt im Alleingang zu retten.

Larry wusste nichts von all dem. Er und seine Frau hatten mich bereits seit einigen Monaten als Paar konsultiert. Zu ihrem letzten Termin kam seine Frau allein. „Wo ist Larry“, fragte ich sie. „Er hat einen Anruf aus Washington bekommen“, sagte sie. „Als ich losfuhr, war er noch immer am Telefon.“ – „Aber hatte er nicht versprochen, sich den Mittwoch frei zu nehmen“, fragte ich. Sie sah mich an und lächelte nur. „Ich verlasse ihn“, sagte sie. „Ich dachte, wenn ich ihn hierher schleppen kann, dann würde er vielleicht genug Aufmerksamkeit für mich und die Kinder aufbringen, damit ich es ihm sagen kann.“

Es machte mich traurig, das zu hören. Ich hatte Larry vor zehn Jahren zum ersten Mal getroffen, als Non-Hodgkin-Lymphome bei ihm diagnostiziert worden waren. Er war damals neunundzwanzig Jahre alt, ein junger Börsenmakler mit einer vielversprechenden Zukunft. Zwei Worte von seinem Arzt hatten ihm all das aus den Händen geschlagen. Doch Larry und seine Frau gaben nicht auf. Sie liebten einander sehr und unterstützten sich gegenseitig während einer brutalen Chemotherapie, die sich über ein Jahr hinzog. Ihre Kinder waren noch klein, und es gab viel, wofür zu leben sich lohnte. Doch acht Monate nach Abschluss der Chemotherapie trat der Krebs wieder auf. Diesmal bekam Larry eine Knochenmarkstransplantation. Zu jener Zeit starb einer von zwei Patienten, sie sich dieser Prozedur unterzogen. Larry ging das Risiko ein, weil er das Leben inbrünstig liebte. Und er gehörte zu denen, die Glück hatten.

Nach dieser Behandlung war er ein anderer Mensch. „Es gibt Wichtigeres im Leben als Geldverdienen“, sagte er mir damals. Er war überzeugt, dass sein Leben aus einem guten Grund gerettet worden war, und meinte, die ihm verbleibende Zeit dazu nutzen zu müssen, die Welt zu verbessern. Er stieg aus der Welt des Big Business aus und begann, auf dem damals noch jungen Gebiet des Umweltschutzes zu arbeiten.

Im Verlauf der folgenden zehn Jahre wurde der Umweltschutz zu einer nationalen Bewegung und Larry war von seiner Aufgabe besessen. Er begann fünfzig Stunden in der Woche zu arbeiten. Und dann sechzig Stunden. Jetzt war er fast ständig auf Reisen, und wenn er mal zu Hause war, dann arbeitete er bis spät in die Nacht über Fax und E-Mail. Er aß und schlief nur noch unregelmäßig. So vergingen manchmal Monate, ohne dass es zu einem Gespräch mit seinen Kindern kam, ohne dass er einmal einen Abend mit seiner Frau verbrachte oder etwas Zeit für sich hatte. Er lebte am Rande des Burnout. Aber es gab immer noch etwas, das getan werden musste, ein weiteres Projekt, eine andere Sache, für die er sich engagieren musste. Seine Frau und seine Kinder fühlten sich anfangs einsam, aber allmählich bauten sie sich ein Leben ohne ihn auf.

„Sagen Sie ihm bitte, dass ich ihn sprechen möchte“, bat ich seine Frau.

Sie nickte. „Ich sage es ihm, nachdem ich ihm die Neuigkeiten mitgeteilt habe.“

Einige Tage später kam Larry in meine Praxis. Müde ließ er sich in den Stuhl mir gegenüber fallen. Ich war erschrocken über seinen Zustand. „Carol sagte mir, dass Sie mich sprechen wollen?“

„Ja“, sagte ich. „Sie hat mir gesagt, dass sie Sie verlassen will.“

„Das hat sie mir auch gesagt“, antwortete er.

Er begann zu schluchzen. „Vor zehn Jahren war ich kurz davor, mein Leben zu verlieren“, sagte er. „Damals habe ich es nicht verloren, aber jetzt verliere ich es.“

„Wie war das damals für Sie?“ fragte ich ihn.

„Ich war verzweifelt“, entgegnete er. „Mir rann das Leben durch die Finger. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr genug Zeit zu haben.“ Er schwieg eine Weile. „Dieses Gefühl habe ich immer noch“, fuhr er dann fort. „Die Welt ist dabei zu sterben. Wir bekommen vielleicht keine zweite Chance.“

Dann saßen wir da und sahen uns schweigend an. Dieser gute Mensch dauerte mich sehr. „Wann haben Sie das letzte Mal mit Ihrer Familie gegessen?“ fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht mehr.“

„Oder wann sind Sie schlafen gegangen, ohne den Wecker zu stellen?“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Und wissen Sie noch, wann Sie das letzte Mal mit Ihren Kindern gespielt oder ihnen eine Geschichte vorgelesen haben?“

„Ich kann mich nicht erinnern“, entgegnete er leise.

„Larry, würden Sie so mit einer vom Aussterben bedrohten Eule umgehen?“ Er blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. Ich sah, dass er wieder weinte.

„Ich glaube, ich kann einfach nicht mehr.“

Ich versicherte ihm, dass ich wusste, wie wichtig seine Arbeit war. Er nickte stumm. „Und hat es Sie glücklich gemacht, dem Leben zu dienen?“ fragte ich.

Er sah mich verwirrt an. „Wie kann es einen glücklich machen, dem Leben zu dienen?“ sagte er. „Dienen heißt Opfer bringen.“

Aber vielleicht ist dem gar nicht so. Eines der fundamentalen Prinzipien wahren Dienens wird täglich weltweit in zahllosen Flugzeugen gelehrt. Larry, der jährlich eine Million Meilen flog, hatte es bereits Hunderte von Malen gehört, ohne zu erkennen, wie wichtig diese Botschaft für ihn selbst war. Es ist ein Satz aus der Litanei, mit der die Stewardessen die Passagiere mit den Sicherheitsvorkehrungen vertraut machen: „Wenn der Luftdruck in der Kabine absinkt, fallen Sauerstoffmasken aus den Fächern über ihnen. Legen Sie zuerst Ihre eigene Maske an, bevor Sie versuchen, der Person neben Ihnen zu helfen.“ Dienen beruht auf der Voraussetzung, dass alles Leben Ihrer Unterstützung und Ihres Engagements wert ist. Was Larry anging, galt das für jedes Leben – außer für sein eigenes.

Hätte ich vor, die Menschen zugrunde zu richten, die ihr Leben dafür einsetzen wollen, die Welt zu retten, dann würde ich es genau so anfangen. Nur wenige Menschen würden sich durch Ruhm, Macht oder sogar Geld von ihrem Ziel abbringen lassen. Aber man könnte sie vielleicht in tiefe Zweifel stürzen und sie zum Innehalten bringen, wie es mit Larry geschehen war. Und dann könnte man ihr Engagement gegen sie selbst wenden und sie dazu antreiben, zu arbeiten, bis sie so leer und ausgebrannt sind, dass sie einfach nicht mehr können. Ich würde dafür sorgen, dass sie niemals begreifen, dass die Segnung des Lebens darin besteht, in uns selbst eine solche Fülle zu schaffen, dass unser Herz überfließt und wir damit andere segnen können.

Aus Liebe zum Leben

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