Читать книгу Aus Liebe zum Leben - Rachel Naomi Remen - Страница 26
ОглавлениеLechaim
Vor vielen Jahren schenkte mein Großvater mir einen silbernen Weinpokal; er war so klein, dass er nicht mehr als einen Fingerhut voll Wein aufnahm. In den Kelch war in feiner Gravur ein Bogen, an dem lange Bänder flatterten, eingraviert. Dieser Kelch war vor langer Zeit in Russland hergestellt worden. Er gab ihn mir an einem jener vielen Nachmittage, an denen wir zusammen am Küchentisch in der Wohnung meiner Eltern saßen, Sätze aus seinen alten Büchern auswendig lernten und über die Natur des Lebens diskutierten. Ich war damals noch sehr jung, nicht älter als fünf oder sechs Jahre, und wenn ich begann zappelig zu werden, dann verstand er meine Aufmerksamkeit wieder zu fesseln, indem er den sakramentalen Concord-Traubenwein herausholte, den er hinten im Kühlschrank aufbewahrte. Dann füllte er meinen ziselierten Pokal mit Manischevitz und gab einen Schuss Wein in seinen eigenen Pokal, einen großen silbernen Zeremonialkelch, der schon Generationen alt war. Wir brachten dann zusammen einen Trinkspruch aus. Bis dahin war die einzige andere Feier, die ich kannte, das Singen von „Happy Birthday“ und Ausblasen der Kerzen. Aber dies gefiel mir noch besser.
Mein Großvater hatte mir den Trinkspruch beigebracht, den wir verwendeten. Er bestand aus einem einzigen hebräischen Wort, Lechaim, was, wie er mir sagte, „Auf das Leben!“ bedeutet. Er sprach es immer mit großem Enthusiasmus aus. „Heißt das, auf ein glückliches Leben, Opa?“ fragte ich ihn einmal. Er schüttelte verneinend den Kopf: „Einfach nur ‚Auf das Leben!‘, Neshume-le.“
Zuerst machte mir das nicht viel Sinn, und ich rang darum, den Sinn zu verstehen. „Ist das vielleicht wie ein Gebet?“ fragte ich unsicher.
„Aber nein, Neshume-le“, antwortete er. „Wir beten um Dinge, die wir nicht haben. Das Leben haben wir ja schon.“
„Aber warum sagen wir dies dann, bevor wir Wein trinken?“ bohrte ich weiter. Er lächelte mich vergnügt an. „Großvater!“ sagte ich, plötzlich misstrauisch geworden. „Hast du dir das ausgedacht?“ Er lächelte wieder und versicherte mir, er habe es nicht. Seit Tausenden von Jahren hätten Menschen auf der ganzen Welt das zueinander gesagt, bevor sie Wein tranken. Es sei eine jüdische Tradition.
Ich dachte eine Zeitlang darüber nach. „Steht es in der Bibel geschrieben, Opa?“ fragte ich schließlich. „Nein, Neshume-le“, entgegnete er, „es steht im Herzen der Menschen geschrieben.“ Als er meinen verwirrten Gesichtsausdruck sah, sagte er mir, Lechaim bedeute, dass das Leben heilig und des Feierns wert sei, ganz gleich, welche Schwierigkeiten es uns bringe, ganz gleich, wie schwer oder schmerzvoll oder unfair es sein möge. „Deshalb ist auch der Wein süß – um uns daran zu erinnern, dass das Leben an sich ein Segen ist.“
Es ist fast fünfundfünfzig Jahre her, dass ich meinen Großvater zuletzt habe sprechen hören, aber ich erinnere mich noch sehr gut an die Freude, mit der er den Trinkspruch auf das Leben ausbrachte, und an das Blinken in seinen Augen, mit dem er Lechaim! sagte. Ich habe es immer für besonders bemerkenswert gehalten, dass ein Volk, für welches das Leben nicht gerade leicht gewesen ist, über Generationen gerade diesen Trinkspruch ausgebracht hat. Aber vielleicht kann er nur von einem solchen Volk ausgebracht werden, und nur jene, die wirklichen Verlust erlitten und die sehr gelitten haben, können seine Macht verstehen.
Lechaim! ist eine Weise, das Leben zu leben. Je älter ich wurde, desto weniger schien es mir bei dem Spruch um das Feiern des Leben zu gehen, sondern immer mehr um die Weisheit, sich für das Leben zu entscheiden. In den vielen Jahren, in denen ich nun an Krebs erkrankte Menschen beraten habe, habe ich immer wieder Menschen sich für das Leben entscheiden sehen, trotz Verlust und Schmerz und Schwierigkeiten. Die gleiche, nicht zum Schweigen zu bringende Freude, die ich in den Augen meines Großvaters gesehen habe, ist auch in all diesen Menschen.