Читать книгу Aus Liebe zum Leben - Rachel Naomi Remen - Страница 15
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Eine Frau, die ich nie persönlich getroffen habe, schrieb mir einmal einen Brief über eine Geschichte, die ich in einem Vortrag erzählt und die sie tief berührt hatte. Es war die Geschichte eines Mannes, der sich nicht um sich selbst kümmern konnte, weil er meinte, seine Medikamente zu nehmen sei gleichbedeutend mit einer Unterwerfung unter die Autorität seiner Krebserkrankung. Er sah seinen Krebs als ein schwarzes Loch, das ständig versuchte, ihn zu verschlucken. Es bedurfte all seiner Kraft, sich diesem Sog zu widersetzen. Doch als er sich eines Tages vorstellte, loszulassen und sich in das Loch hineinziehen zu lassen, fand er in dessen Dunkelheit zu tiefgreifender Heilung.
Als die Frau diese Geschichte gehört hatte, wurde ihr klar, dass es auch mitten in ihrem eigenen Leben ein solches Loch gab. Das war eine große Überraschung für sie, aber es ließ sich nicht leugnen. Viele ihrer Verhaltensweisen und Gewohnheiten, die zuvor einfach exzentrisch erschienen waren, machten jetzt auf eine neue Weise einen Sinn. Ihre eigene Krebserkrankung war vor fast einem Jahrzehnt erfolgreich behandelt worden. Sie hatte angenommen, dass sie der Vergangenheit angehörte. Aber jetzt wurde ihr klar, dass dies nicht ganz zutraf.
Seit vielen Jahren hatte sie sich kein wirklich gutes Paar Schuhe gekauft, eines das lange halten würde. Vielleicht würde sie es ja nicht auftragen können und es wäre vergeudet gewesen. Sie machte stets ein Jahr im Voraus Urlaubspläne mit ihrer Familie, aber sie kaufte sich die Kleider für ihre Reise immer erst in der letzten Minute, so als könnte sie vorher nicht sicher sein, diese Reise auch wirklich antreten zu können. Und eine teure Zahnbehandlung hatte sie aus unerfindlichen Gründen immer wieder verschoben. All das hatte sie sich bis dahin nie wirklich bewusst gemacht.
Jetzt, wo es ihr bewusst geworden war, verspürte sie ein untergründiges Ziehen, etwas, das sie in die Vergangenheit zurückzog und sie daran hinderte, ihr Leben voll auszuschöpfen. „Genug ist genug“, hatte sie sich damals gesagt, und noch während meines Vortrages hatte sie die Augen geschlossen, sich das Loch vorgestellt und sich von ihm verschlingen lassen.
Ihre erste Empfindung war die einer endlosen Finsternis. Sie hatte das Gefühl zu fallen, aber noch bevor sie sich deshalb ängstigen konnte, erkannte sie, dass dem nicht so war. In dieser völligen Dunkelheit gab es kein „Oben“ und „Unten“; sie schwebte einfach in einem sanften, dunklen Raum. Zögernd zuerst, machte sie eine Wendung nach rechts. Und dann noch eine. Und dann eine oder zwei nach links. Etwas Neues begann in ihr zu wachsen und sie erlaubte ihm, sie Hals über Kopf eine Reihe von Purzelbäumen schlagen zu lassen. Sie spürte ein Gefühl der Freiheit in sich aufwallen und begann, leise in sich hineinzulachen. Während sie so weiter schwerelos in der Finsternis tanzte, wurde dieses Gefühl der Freiheit immer stärker, bis sie begann, mit beiden Füßen heftig nach unten zu treten. Dabei hatte sie die Empfindung, nach oben getrieben zu werden, schneller und schneller, und eine große Freude wuchs in ihr, bis sie selbst völlig verschwunden war. Sie explodierte in eine Million heller Funken der Freude, die sich wie ein Regen herabsenkten und in das Herz der Menschen überall fielen. Langsam öffnete sie die Augen. Sie fühlte sich vollkommen in Frieden.
„Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat“, schrieb sie mir. „Aber seitdem ist irgend etwas anders geworden. Vielleicht ist das alles nur eine Schnapsidee. Alles, was ich sagen kann, ist, dass ich mir diese Woche ein Paar italienische Schuhe gekauft habe. Sie waren sehr teuer. Und ich trage sie eben jetzt. Ich wollte Sie das nur wissen lassen.“