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Uns aneignen, was wir besitzen

Die mittlere Schublade der Kleiderkommode meiner Mutter war voller Seidenstrümpfe, Dutzende von Paaren in den elegantesten Farben, alle noch in der Originalverpackung, in der meine Mutter sie gekauft hatte. Sie waren nie getragen worden. Als Kind zog ich mir gern einen Stuhl an die offene Schublade heran, um sie in die Hand zu nehmen, die Päckchen zu zählen und die schönen Farben zu bewundern. Einmal fragte ich meine Mutter, warum sie sie nie anzöge. Sie antworte mir, sie seien zu schade dafür; wenn sie sie anzöge, könnten sie zerreißen oder sonstwie beschädigt werden, und sie seien unersetzlich. Damals war Krieg, und alle Seide in den Vereinigten Staaten war der Produktion von Fallschirmen zugeführt worden. Sie bewahrte die Strümpfe, wie sie mir sagte, für eine besondere Gelegenheit auf.

Jedes Jahr im August flüchteten wir während des heißesten Teil des Sommers aus Manhattan in ein kleines gemietetes Holzhaus auf Long Island; unsere Wohnung stand solange leer. Als wir nach einem dieser Urlaube wieder zurückkehrten, fanden wir unsere Wohnung aufgebrochen und ausgeraubt vor. Ich weiß noch, wie ich hinter meinen Eltern her durch die einzelnen Räume ging, entsetzt darüber, zu sehen, dass viel von unserem Familienbesitz fehlte und andere Dinge zertrümmert auf dem Fußboden lagen. Doch der größte Schock erwartete mich im Schlafzimmer. Die Schubladen der Kommode meiner Mutter waren herausgezogen – und die mittlere war leer.

Das war meine erste Lektion in Sachen Verlust. Damals schalten meine Lehrer mich immer, weil ich nicht genügend auf meine Sachen aufpasste. Aber meine Mutter hatte sehr gut auf ihre Strümpfe aufgepasst. Sie hatte sie sogar überhaupt nicht benutzt. Ich grübelte sehr lange darüber nach.

Dieses Ereignis hatte eine tiefgreifende Wirkung auf uns alle. Mein Vater kaufte mehr Schlösser für unsere Wohnungstür, und jede Wohnung, in der wir von da an lebten, hatte an jeder Außentür wenigstens drei Schlösser. Aber das schien meine Fragen nicht zu beantworten. Schließlich begann ich, alles, was ich besaß, auch zu benutzen.

Eine älterer Patient, der seine gesamte Familie überlebt hatte, sagte mir einmal, dass alles, was wir behalten können, unsere Erinnerungen sind. Vielleicht ist der einzige Weg, sich etwas zu erhalten, es zu verbrauchen. Über fünfzig Jahre danach denke ich noch voller Bedauern an diese Strümpfe. Vielleicht empfangen wir alle sehr viel mehr Segnungen, als wir wirklich annehmen.

Aus Liebe zum Leben

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