Читать книгу Aus Liebe zum Leben - Rachel Naomi Remen - Страница 22

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Lehrer sind überall

Ich kann mich noch gut an etwas erinnern, das geschah, als ich in der dritten Klasse war. Ich ging mit meiner Mutter eine Straße in Downtown Manhattan entlang; auf dem Weg, ich weiß nicht mehr wohin, drängten wir uns durch die Menschenmassen. Man hatte mich gerade in eine besondere Schulklasse gesteckt, weil ich bei einem Intelligenztest gut abgeschnitten hatte, und mein neuer Lehrer hatte uns erzählt, wenn man in diese Klasse komme, bedeute das, dass man intelligenter sei als die meisten anderen Menschen im Lande. Während wir im Strom der Menschen dahinschwammen, fiel mir das wieder ein, und die überschwengliche Freude einer Achtjährigen erfüllte mich. Ich erzählte meiner Mutter, mein Lehrer hätte gesagt, ich sei klüger als die meisten Menschen um uns herum. Meine Mutter blieb auf der Stelle stehen und kniete sich vor mich hin, so dass unsere Augen auf gleicher Höhe waren. Während die Menschen sich um uns herum drängten, sagte sie mir, dass jeder der Menschen um uns herum eine geheime Weisheit besäße; jeder von ihnen wisse auf seine Weise mehr als ich darüber, wie man lebt, glücklich ist und liebt.

Ich schaute zu den Passanten auf. Es waren alles Erwachsene. „Ist das so, weil sie schon groß sind, Mama?“ fragte ich, etwas enttäuscht. „Nein Liebes“, antwortete sie, „das wird immer so sein. So sind die Dinge nun einmal.“ Wieder sah ich die Menge um uns herum an. Plötzlich wollte ich all diese Menschen kennenlernen, wollte von ihnen lernen, mit ihnen befreundet sein.

Diese Lektion geriet in Vergessenheit wie viele andere aus meiner Kindheit, aber kurz nachdem ich Ärztin geworden war, hatte ich einen Traum, der so stark war, dass ich mich daran erinnerte, auch wenn ich ihn nicht verstand. In diesem Traum stehe ich auf der Schwelle einer Tür. Mir scheint, ich stehe dort schon sehr lange. Menschen gehen durch die Tür. Ich kann nicht sehen, wohin sie gehen oder woher sie kommen, aber das scheint keine Rolle zu spielen. Ich treffe sie, einen nach dem anderen, dort in der Tür. Im Vorübergehen bleiben sie für einen Augenblick stehen, schauen mir ins Gesicht und händigen mir etwas aus, jeder etwas anderes. Sie sagen: „Hier ist etwas, das du behalten kannst.“ Und dann gehen sie weiter. Ich fühle eine tiefe Dankbarkeit.

Vielleicht stehen wir alle in einer solchen Tür. Manche Menschen gehen durch diese Tür – auf dem Weg zum Rest ihres Lebens, eines Lebens, das wir vielleicht nie kennenlernen werden. Andere gehen hindurch auf dem Weg zum Tod oder ins Unbekannte. Jeder hinterlässt uns etwas. Als ich aus dem Traum erwachte, blieb ein Gefühl für den Wert jedes einzelnen Lebens zurück.

Aus Liebe zum Leben

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