Читать книгу Aus Liebe zum Leben - Rachel Naomi Remen - Страница 28

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EINLEITUNG ZUM ZWEITEN TEIL

Ob wir uns nun dessen bewusst sind oder nicht, im Laufe unseres Lebens werden wir die Qualität unserer Menschlichkeit immer weiter verfeinern. Heute suchen immer mehr Menschen nach spirituellen Techniken, die ihnen dabei helfen können. Aber allein schon Freude und Leid werden dies für uns leisten. Jede Lebensspanne bietet uns zahllose Gelegenheiten, ganzheitlicher zu werden.

Das Leben bietet uns seine Weisheit großzügig dar. Alles lehrt uns. Das Leben verlangt dasselbe von uns, das uns auch in jeder Unterrichtsstunde abverlangt wurde: „Bleibe wach!“ – „Sei aufmerksam!“ Aber aufmerksam sein, ist keine leichte Sache. Es verlangt von uns, dass wir uns nicht von Erwartungen, vergangenen Erfahrungen, Aufklebern und Masken ablenken lassen. Wir dürfen uns nicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen hinreißen lassen und müssen für Überraschungen offen bleiben. Weisheit schenkt sich denen am leichtesten, die den Mut haben, das Leben ohne Urteile anzunehmen, und die bereit sind, im Nichtwissen zu verbleiben, manchmal für lange Zeit. Sie verlangt von uns, dass wir auf vollständigere und schlichtere Weise lebendig sind, als den meisten von uns beigebracht worden ist. Sie kann aber auch von uns verlangen, zu leiden. Letztlich werden wir jedoch mehr sein, als wir zu Anfang waren. Der Same einer größeren Ganzheit liegt in jedem von uns.

Unlängst hatte ich die Gelegenheit, als Teil einer Gruppe von Menschen im Wohnzimmer einer Freundin, welche den tibetischen Buddhismus praktiziert, einer Darlegung des Dharmas durch ihren Lehrer Gelek Rinpoche beizuwohnen. Gelek Rinpoche ist ein rundlicher und köstlicher Mann, der bis zum Überlaufen von einer Art geheimer Freude erfüllt ist. Sie ist geradezu ansteckend. An diesem Abend sprach er über „Zum Buddha Zuflucht nehmen“ – eine Formulierung, die ich als Nichtbuddhistin nie zuvor gehört hatte, die aber von den Buddhisten um mich herum mit einem wissenden Nicken quittiert wurde. Zuflucht nehmen bedeutet nach Gelek Rinpoche nicht, dass man hinausgeht, um den Buddha zu finden, sondern dass man nach innen geht zu jenem Ort in jedem von uns, welcher der Buddha-Same, das Buddha-Potential ist – das, was fähig ist, ein Buddha zu sein. Er hielt inne, um diese Aussage auf uns wirken zu lassen, und es schien mir, als intensiviere sich seine Freude in diesem Augenblick noch mehr, wie bei einem eingedämmten Feuer, das in einem verkohlten Baumstumpf plötzlich einen Klumpen Harz findet.

Ich hatte ein Gefühl für jenen Teil in mir und in anderen, den er meinte. Ich hatte bloß niemals daran gedacht, dazu Zuflucht zu nehmen. „Zuflucht wovor?“ hatte ich gedacht. Ich glaube heute, es war Zuflucht vor dem Leiden gemeint.

Der Buddha-Same ist der Teil eines jeden Menschen, der das Potential für Weisheit hat. Weisheit ist nicht etwas, das wir erlangen könnten – es ist etwas, zu dem wir im Laufe der Zeit werden können. Dazu gehört eine Veränderung in unserer grundlegenden Natur, eine Vertiefung unserer Fähigkeit zu Mitgefühl, Liebender Güte, Vergebung, Nichtverletzen und Dienen. Das Leben selbst bewässert den Buddha-Samen in uns. Unser Vermögen, weise zu sein, wächst im Laufe des Lebens auf natürliche Weise.

Wenn man weiß, dass der Buddha-Same in uns allen vorhanden ist, dann ändert das unsere Sicht der Dinge. Wir alle sind mehr als wir scheinen. Viele Dinge lassen ihre wahre Natur nicht auf den ersten Blick erkennen. Was man an einer Eichel sehen und berühren kann, ist ihre Farbe, ihr Gewicht, ihre Härte, ihre Länge und Breite – aber all das gibt uns keinerlei Hinweis auf das Geheimnis ihres Potentials. Das Geheimnis ist nicht direkt messbar, doch unter den angemessenen Umständen und wenn genügend Zeit verstreicht, mag es sichtbar werden.

Eine Eichel macht keinen Sinn, wenn wir nicht wissen, dass eingewoben in ihre Beschaffenheit etwas schlummert, das eine Eiche zu werden weiß. Eine Eichel ist durch dieses Vermögen definiert. Irgend etwas kann die Größe, die Form, das Gewicht, die Konsistenz und die Farbe einer Eichel haben, aber ohne die verborgene Kraft, eine Eiche zu werden, ist es keine Eichel.

Unsere eigentliche Menschlichkeit wird durch den Buddha-Samen ins uns definiert, die Fähigkeit, an Weisheit und weisem Handeln zu wachsen. Keiner von uns ist nur das, was sie oder er zu sein scheint.

Jede Eichel sehnt sich danach, ihre wahre Natur zum Ausdruck zu bringen, und benutzt jede Gelegenheit, ihr Vermögen, zu einer Eiche zu werden, zu verwirklichen. So gibt es auch in jedem von uns eine natürliche Sehnsucht nach Ganzheit und Weisheit. Sie ist von Person zu Person verschieden stark. Bei manchen Menschen mag sie sehr bewusst sein, bei anderen tief vergraben. Sie mag im Brennpunkt eines Lebens liegen und eher an der Peripherie eines anderen, aber sie ist immer vorhanden. Ganzheit ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis.

Keiner von uns wird weise geboren. Der Großvater, den ich kannte, war ein alter Mann. Zu dem Zeitpunkt, als wir uns trafen, hatte das Leben ihn bereits abgeschmirgelt und hatte ihn viele Dinge gelehrt. Früher war er ein brillanter junger Gelehrter des Alten Testaments gewesen, der stolz war auf seinen Intellekt und seine Gelehrsamkeit. Er war das Zentrum einer Gemeinde frommer orthodoxer Juden gewesen, die seine Lehre fraglos als das Gesetz akzeptiert hatten. Er hatte in einer Welt von Schwarz und Weiß gelebt, mit einem klaren Sinn dafür, was gut war und was nicht. Ich glaube nicht, dass ich ihn damals geliebt hätte – und ich bin nicht sicher, dass seine eigenen Kinder ihn damals geliebt haben.

Meine Mutter erzählte mir einmal von etwas, das sich ereignet hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war. Nach dem strengen orthodoxen Gesetz ist es verboten, Götzenbilder zu haben, nicht nur in der Synagoge, sondern auch zu Hause. Das Gesetz gilt auch für Puppen, und so hatten meine Mutter und ihre jüngere Schwester nie eine Puppe besessen. Eine der Frauen in der kleinen russischen Stadt, in der sie damals lebten, hatte Mitleid mit den beiden kleinen Mädchen gehabt und hatte meiner Mutter eine Puppe geschenkt. Sie hatte einen Kopf aus Porzellan, blaue Augen und echte blonde Haare. Sie war das ein und alles der beiden kleinen Schwestern. Aber ihr Vater hatte die Puppe entdeckt. In einem Wutanfall hatte er sie genommen und quer durch das Zimmer geworfen. An der gegenüberliegenden Wand war sie in hundert Stücke zerschellt. Meine Mutter war über siebzig Jahre alt, als sie mir diese Geschichte erzählte, aber selbst damals stiegen ihr noch Tränen in die Augen.

Die Geschichte, wie meine Familie zu ihrem amerikanischen Namen kam, ist ebenfalls bezeichnend. Einige Jahre bevor die ersten Pogrome Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wie ein Lauffeuer durch Polen und Russland gingen, erwachte mein Großvater eines Nachts aus einem Traum, der ihn zutiefst beunruhigte. Der Tod hatte einen seiner großen schwarzen Flügel ausgestreckt und die Lichter in allen Synagogen in Osteuropa ausgelöscht. Er kannte die meisten von ihnen mit Namen, und er hatte voller Entsetzen mit ansehen müssen, wie sie eine nach der anderen ausgelöscht wurden. Dieser Traum verfolgte ihn ständig und er verstand ihn nicht. Als er einige Wochen später wiederkehrte, verstand er ihn als eine Botschaft und eine Warnung. Er versammelte seine Familie und seine gesamte Gemeinschaft um sich, und sie wanderten nach Amerika aus.

Wie so viele andere erhielt auch meine Familie auf Ellis Island in New York einen neuen Namen. Als sie endlich den Schalter der Einwanderungsbehörde erreichten, fragte der Mann dahinter meinen Großvater nach seinem Namen. Niemand hatte meinen Großvater, der in Russland in seiner Tradition verwurzelt und nur von Respekt umgeben gewesen war, bisher in einem solchen Tonfall angesprochen, und so starrte er diesen Mann nur an. Der Beamte dachte, er hätte ihn vielleicht nicht verstanden, und er fragte meinen Vater nochmals nach seinem Namen, diesmal auf Yiddisch: „Wos is dein Nommen?“ Damals war Yiddisch die Sprache der Ungebildeten und der Frauen und Kinder. Auch wenn mein Großvater es sehr wohl verstand, sprach er es doch selten, und er wurde im allgemeinen auf Hebräisch angesprochen, in der Sprache Gottes. Bis auf die Knochen beleidigt, wendete er dem Mann einfach den Rücken zu. Ich kann ihn mir gut vorstellen, wie er dastand, jung und erbost, in seinem schwarzen Mantel, mit schwarzem Hut, vollem schwarzem Bart, die Arme vor der Brust verschränkt, und dem unhöflichen Beamten den Rücken zukehrte. Es ist kaum zu glauben, dass eben dieser Mann seiner Enkelin vierzig Jahre später sagen sollte, dass es eine schwerwiegende Abtrennung von Gott sei, wenn man sich beleidigen lasse oder andere Menschen beleidige.

Indessen versuchte meine Großmutter Rachel, selbst eine junge Frau, ihre sechs kleinen Kinder zu beruhigen, die verschreckt waren von der ungewohnten Umgebung. Sie sprach beruhigend in Yiddisch auf sie ein, versuchte ihr Weinen zu beruhigen und sie zu trösten. „Schha, schha“, sagte sie zu ihren Kleinen. „Scheene Kinder. Zische Kinder.“ („Psst, psst. Schöne Kinder. Süße Kinder.“) Und so sagte der Beamte, der meinem erbosten Großvater keine Antwort entlocken konnte, einfach: „Ziskind … die Nächsten!“ So wurde mein Großvater für den Rest seines Lebens zu Rabbi Ziskind (Süßkind).

Es fällt mir schwer, die Geschichten über meinen Großvater aus seiner Jugend in Übereinstimmung zu bringen mit dem alten Mann, der in meiner frühen Kindheit das Zentrum meiner Welt war. Mit der Zeit war er offenbar über sie hinausgewachsen. Zu dem Zeitpunkt, als ich ihn kennenlernte, hatte er bereits gelernt, dass der Buchstabe des Gesetzes weit weniger wichtig ist als sein Geist, dass der Geist Gottes in der Seele und nicht im Verstand wohnt und dass ein kleines Mädchen, das weder Hebräisch noch Yiddisch sprach, doch direkt mit Gott sprechen konnte, in seiner eigenen Sprache.

Jeder Mensch und jedes Ding ist eingebunden in den Prozess, seine eigene Seele zu manifestieren. Dieses Ringen der Persönlichkeit darum, für die Seele durchlässig zu werden, ist ein Kampf, sich von der Illusion zu befreien, an Weisheit zu wachsen. Der Prozess des Wachsens an Weisheit und Durchlässigwerdens für die Seele vollzieht sich in uns allen und um uns herum. Das ist meist weder ein sehr anmutiger noch ein bewusst gesteuerter Prozess. Wir stolpern vorwärts, oft in Finsternis, und benutzen alles dazu, um mehr zu dem zu werden, was wir sind. Das ist ein Unternehmen, welches all unserer Geduld, unserer Unterstützung, unseres Mitgefühls und unserer Aufmerksamkeit wert ist.

Wie uns Menschen berichten, die eine Erfahrung der Todesnähe gehabt haben und zurückgekommen sind, sind wir alle hier auf der Erde, um an Weisheit zu wachsen und zu lernen, wie wir besser lieben können. Indem wir dies jeder auf seine Weise lernen, werden wir langsam zu einem Segen für die Menschen um uns herum und zu einem Licht in der Welt.

Aus Liebe zum Leben

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