Читать книгу Aus Liebe zum Leben - Rachel Naomi Remen - Страница 24
ОглавлениеDas Herz kennen
Im Herbst meines dritten Jahres an der medizinischen Fakultät, begannen wir unter kompetenter Aufsicht unsere ersten Patienten zu behandeln. Die erste Patientin, die mir zugeteilt wurde, war eine ältere Frau mit einem unkomplizierten linksseitigen Herzversagen. Sie war eine ideale Patientin für jemanden, der noch nicht viel über Medizin wusste, eine Patientin wie aus dem Lehrbuch mit einer leicht zu behandelnden Krankheit. Ich konnte selbst die Diagnose stellen, indem ich ihr Herz abhörte und den dritten Ton hörte, der typisch für diese Art von Herzversagen ist. Die Tests, die ich veranlasste, bestätigten, dass ich richtig gehört hatte; sie hatte eine arteriosklerotische Herzerkrankung mit einer starken linksseitigen Hypertrophie. Zusammen mit dem beaufsichtigenden Arzt konnte ich einen Behandlungsplan erstellen. Ich wollte ein Diuretikum und Digoxin benutzen, um das Herzproblem anzugehen – ich fand das alles sehr aufregend.
Nach einigen Wochen der Behandlung hatte ihr dritter Herzton nachgelassen, die Schwellungen ihrer Gelenke waren zurückgegangen, ihre Kurzatmigkeit war verschwunden und ihre physische Belastbarkeitskurve ging deutlich nach oben. Aus irgendeinem Grund schienen sie jedoch die Anzeichen für eine Verbesserung der Herzfunktion längst nicht so zu beeindrucken wie mich selbst. Ich weiß noch, dass ich damals gedacht hatte, das läge wohl daran, dass sie schon alt und ihr das Leben nicht mehr so wichtig wäre wie mir. Kurz vor Weihnachten entließ ich sie aus der Klinik, mit einer Verschreibung für eine gewisse tägliche Dosis von Digoxin und der Aufforderung, mich in einem halben Jahr wieder zu konsultieren. Als ich mein erstes Rezept schrieb, fühlte ich mich wie eine richtige Ärztin.
Als ich mir eines Tages Anfang März den Plan mit den Terminen für diesen Tag ansah, bekam ich einen Schrecken, weil ich ihren Namen auf der Liste fand. Sie war die dritte Patientin auf meiner Agenda, und während ich die beiden ersten Patienten abfertigte, ging ich im Geist ängstlich ihren Fall noch einmal durch. Ich war sicher, dass ich irgendeinen Fehler gemacht und ihr Herz wieder versagt hatte. Warum sollte sie sonst schon so bald wiederkommen? Was könnte ich nur übersehen haben? Ich konnte an nichts anderes denken.
Ich fand sie total angezogen im Untersuchungszimmer vor. Als sie meinen fragenden Gesichtsausdruck sah, meinte sie, sie sei nicht gekommen, um sich untersuchen zu lassen. Sie wollte mir nur etwas geben. Sie wühlte in den Tiefen ihrer großen Handtasche, holte ein kleines Päckchen aus Wachspapier heraus und drückte es mir in die Hand. Ich machte es auf und fand kleine purpurne Blüten darin. Ich sah sie erstaunt an. „Das sind Traubenhyazinthen“, sagte sie. Sie und ihr Mann hätten sie vor über vierzig Jahren in ihrem Garten gepflanzt. Jedes Frühjahr würden sie zuverlässig zurückkehren – das erste Anzeichen dafür, dass das Leben stärker sei als der Winter.
Als sie im letzten Herbst gespürt hätte, wie ihr eigenes Leben sich zurückzog und zu versagen begann, hätte sie nicht an den Winter, sondern an den Tod gedacht. Sie hätte an die Hyazinthen und die anderen Blumen in ihrem Garten denken müssen, die in jedem Frühjahr wiederkehrten, und hätte gefürchtet, sie werde sie nie wiedersehen. Sie hätte große Angst gehabt. Sie hätte sich meine Beschreibung des Medikaments, das ich ihr geben wollte, und seiner Wirkungen sehr genau angehört, aber sie hätte mir nicht wirklich geglaubt. Ich sei ja doch so jung – wie also sollte ich das wirklich wissen können? Dann lächelte Sie mich über jenen Abgrund von fast sechzig Jahren hinweg an: „Vielen Dank, Frau Doktor“, sagte sie. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“
Ich hatte zwar etwas gewusst, doch hatte ich nicht wirklich verstanden. Mein medizinisches Lehrbuch hatte mir Auskunft über die Wirkung von Digoxin gegeben, über seine Kontraindikationen und die Dosierung. Ich wusste, dass das seinen Dienst versagende Herz selbst im Alter von sechsundachtzig Jahren darauf reagieren würde. Das Lehrbuch hatte mir alles gesagt, das ich wissen musste – außer, dass die Liebe zum Leben keine Funktion der Stärke des Herzmuskels ist.
Zwanzig Jahre später hatte meine eigene vierundachtzigjährige Mutter – eine Frau, die sehr viel direkter aussprach, was sie meinte – ihren jungen Kardiologen angesehen und ihm gesagt, sie erwarte vom ihm, dass er bis zum Letzten um sie kämpfe. „Ich möchte, dass ihnen klar ist, dass mein Leben kostbar für mich ist, junger Mann“, sagte sie ihm. „So kostbar wie ihr eigenes für Sie selbst.“
Als ich kürzlich ein Ärzteseminar zum Thema Abhorchen besuchte, nahmen wir alle unser Stethoskop hervor und hörten mehrere Minuten unserem eigenen Herzen zu. Alle Teilnehmer waren mittleren Alters, und anfangs diagnostizierte erst einmal jeder sich selbst und horchte ängstlich, ob vielleicht eine gespaltene S1, ein dritter Herzton oder das Raunen einer arteriosklerotischen Herzklappe zu hören war. Aber indem die Zeit verging, gingen wir über all das hinaus und hörten etwas Zuverlässiges in der Mitte unseres Lebens, das schon immer da gewesen war, selbst bevor wir eine wirklich menschliche Form angenommen hatten. Unser Leben und das Leben jedes anderen Menschen hing davon ab.
Es war eine tiefgehende und unbeschreibliche Begegnung mit dem Geheimnisvollen. Die meisten von uns waren davon tief berührt. Wir hatte alle seit Jahren Herzen abgehorcht und diagnostiziert, aber niemand von uns hatte schon einmal so etwas erfahren. In diesen Momenten hatten wir einen flüchtigen Blick auf etwas geworfen, das über unsere gewohnte Weise zu sehen und zu hören hinausging, und wir wussten, dass das, womit wir es täglich zu tun hatten, das Leben selbst ist. Es war einer von jenen Momenten, die mein Großvater gesegnet hätte.
Danach herrschte Stille im Raum. Dann begann einer der anwesenden Kardiologen über seine Arbeit zu sprechen und sich laut zu fragen, wie man etwas so Heiligem derart nahe sein kann, ohne es wirklich zu kennen. Es erinnerte ihn, so sagte er, an ein Gebet, das er vor längerer Zeit einmal gehört habe. Etwas verlegen, begann er es laut zu rezitieren:
„Tage vergehen und die Jahre verschwinden, und wir wandeln blind umher unter Wundern. Herr, erfülle unsere Augen mit Sehen und unseren Geist mit Wissen. Lass es Momente geben, in denen Deine Gegenwart die Dunkelheit, in der wir wandeln, wie ein Blitz erhellt. Hilf uns zu sehen, wohin wir auch schauen, dass der Dornbusch brennt, ohne zu verbrennen. Und wir, von Gott angerührte Erde, werden nach dem Heiligen ausgreifen und voller Ehrfurcht ausrufen: ‚Wie ist doch dieser Ort erfüllt von Staunenswertem und wir wussten es nicht.‘“
Diese letzte Zeile hatte ich schon viele Male gehört. Sie gehörte zu den Lieblingssprüchen meines Großvaters.