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Was wirklich zählt

Fast jedes Jahr gebe ich eine Vorlesung mit dem Titel „Sinn“ für die Studenten im zweiten Jahr an der medizinischen Fakultät der Universität von Kalifornien in San Francisco. Etwa in der Mitte meines Vortrages mache ich den Studenten den Vorschlag, einige Minuten nachzudenken und ein Bild zu finden, welches symbolisiert, was die Ausübung der Medizin für sie persönlich bedeutet. Dann sprechen wir den Rest der Stunde darüber.

Der tiefste Sinn liegt oft unter der Oberfläche des bewussten Geistes, und in unserm Gespräch über diese Symbole und Bilder tauchen oft universelle und archetypische Ideen aus dieser Tiefe auf. Bei einer dieser Gelegenheiten sagte ein Student gegen Ende der Stunde, er habe wohl alles falsch gemacht und bei ihm sei kein Symbol aufgetaucht. Statt dessen sei ihm ein musikalisches Thema eingefallen, das er als ein Thema aus der Dritten Symphonie von Beethoven wiedererkannte. Als ich fragte, was das für ihn bedeute, sagte er, er sei sich nicht sicher. Vielleicht habe es etwas mit der Überwindung körperlicher Behinderungen zu tun. Beethoven habe ja die Neunte Symphonie mit der außerordentlichen „Ode an die Freude“ geschrieben, als er schon völlig taub war. Vielleicht könne man anderen helfen, ihre Behinderung auf ebenso inspirierende Weise zu überwinden.

Aber auch wenn sich das ganz vernünftig anhörte, liegt Sinn doch jenseits der Vernunft, und ich vermutete, dass noch mehr dahinterstecken könnte. Ich beschloss also, weiter nachzuforschen, und fragte ihn, wann er zuletzt Beethovens Dritte gehört habe. Er sah mich lange an, und sein Blick wurde traurig. Sie war vor vier Wochen beim Begräbnis seines Freundes gespielt worden, der bei einem Motorradunfall umgekommen war. Es wurde ganz still im Hörsaal. „Was haben Sie aus dem Tod Ihres Freundes gelernt?“ fragte ich. Er schwieg eine Weile. Dann erzählte er uns, dass er seinen Freund fürchterlich vermisse. In den vergangenen Wochen habe er mehrfach zum Telefon gegriffen, um seinen Freund anzurufen und irgend etwas mit ihm zu teilen. Dann sei ihm klar geworden, dass er nicht mehr lebte, und jedes Mal habe er den Verlust wieder ganz direkt erfahren. Er habe versucht, mit anderen zu reden, aber das sei nicht dasselbe gewesen. Es würde eben nie wieder so sein. Er habe sich das nie in diesen Worten klar gemacht, aber der Tod seines Freundes habe ihm gezeigt, dass kein Mensch ersetzbar ist. Jedes Leben, so sagte er, ist einzigartig und kostbar. Er saß einige Minuten schweigend da, den Tränen nahe. „Ich glaube, das ist es unter dem Strich für mich“, sagte er dann. „Wäre dem nicht so, dann würde alles, was wir hier lernen, überhaupt keinen Sinn für mich machen.“ Wir alle saßen betroffen da und dachten darüber nach. In dieser Stille realisierten wohl viele von uns, dass es auch für uns selbst „unter dem Strich“ so war.

Als ich noch klein war, gab es eine Woche, in der das ganze Land wusste, dass jedes menschliche Leben unersetzlich ist. Das ist zwar schon sehr lange her, aber ich erinnere mich noch, dass irgendwo im mittleren Westen ein Kind in einen stillgelegten Brunnen gefallen war. Eine Woche lang kämpfte ein Rettungstrupp darum, es wieder herauszuholen. Das war noch vor der Zeit des Fernsehens und überall liefen im Radio Berichte darüber – in Geschäften, in Bussen, selbst in der Schule. Völlig Fremde sprachen sich auf der Straße an und fragten: „Irgendwelche Neuigkeiten?“ Menschen aller Religionen beteten zusammen.

Während die Rettungsaktion ihren Lauf nahm, fragte niemand danach, ob das da unten in dem Brunnen das Kind eines Professors, einer Putzfrau, einer reichen Familie sei. War das Kind schwarzer oder weißer oder gelber Hautfarbe? War das Kind brav oder ungezogen, klug oder schwer von Begriff? In jener Woche wusste jedermann, dass diese Dinge nicht wirklich zählten, dass die Wichtigkeit des Lebens eines Kindes nichts mit all dem zu tun hat. Der Verlust eines Menschenlebens berührte uns alle, wäre für jeden von uns ein Verlust gewesen.

Und ohne dass dies laut ausgesprochen wurde, wussten wir alle, dass dies überhaupt nichts Persönliches hatte. Nicht nur dieses menschliche Leben war von großem Wert, sondern unser eigenes Leben hatte denselben Wert. Wenn wir selbst in diesem Brunnen gesteckt hätten, wären die Gedanken und Gebete des ganzen Landes auch mit uns gewesen.

Wenn wir alle das aus Anlass des Brunnensturzes eines Menschen wussten, dann hatten wir es auch schon vorher gewusst. Dieses dramatische Ereignis hatte uns nur an etwas Wahres erinnert, um das wir immer schon gewusst hatten. Dann gelang die Rettung, und wir alle vergaßen es wieder. Es ist wirklich erstaunlich, wie leicht es ist zu vergessen, dass jedes einzelne Leben zählt, dass wir alle gleich viel wert sind – bedingungsloser Liebe wert.

Aus Liebe zum Leben

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