Читать книгу Aus Liebe zum Leben - Rachel Naomi Remen - Страница 23
ОглавлениеUm gewinnen zu können, musst du anwesend sein
Kurz nachdem sie begonnen hatte, als Ärztin in einem Indianerreservat zu arbeiten, wurde Elizabeth zu einer alten Frau und ihrer Tochter gerufen. Die alte Frau war weit in ihren Neunzigern, klein und verschrumpelt, mit auf traditionelle Weise frisiertem Haar. Sie hatte viele schwere körperliche Probleme und war nie angemessen behandelt worden. Seit einigen Jahre wohnte sie im Haus ihrer Tochter, die sich um sie kümmerte. In Elizabeths Sprechzimmer war es hauptsächlich die Tochter, die etwas sagte. Die alte Frau hörte nur zu und beobachtete.
Zwei Jahre lang sah Elizabeth die beiden alle zwei Wochen. Während dieser Zeit konnte sie viele der sehr komplexen Probleme der alten Frau diagnostizieren und mit Erfolg behandeln. Sie gab ihr Antibiotika gegen eine Blasenentzündung, brachte die Diabetes der alten Frau unter Kontrolle und den Blutzucker in einen normalen Bereich, bewahrte sie mit Hilfe von Digitalis vor einem drohenden Herzversagen und stellte ihre Ernährung um, um sie auf die Kapazität einer Leber einzustellen, die kaum noch funktionierte. Sie ließ viele Labortests machen. Sie mobilisierte auch die Sozialfürsorge, damit diese der Tochter half, sich um ihre Mutter zu kümmern, und verschaffte ihr durch eine Regierungsbeihilfe finanzielle Unterstützung. Schließlich starb die alte Frau im Alter von sechsundneunzig Jahren. Zu diesem Zeitpunkt war ihre Akte drei Zentimeter dick. Als Elizabeth sie noch einmal durchging, um eine Zusammenfassung zu schreiben, war sie stolz drauf, wie sie diesen komplexen Fall bewältigt hatte.
Einige Monate später erhielt sie einen Anruf von einem Forscher von der Universität von Arizona. Er fragte sie, ob sie etwas Zeit hätte, mit ihm zu sprechen. Er schriebe nämlich gerade an einem Buch über traditionelle indianische Medizin und interessiere sich besonders für die großen Medizinfrauen, welche die Überlieferungen ihrer jeweiligen Traditionslinie empfangen und die alten Heilweisen lebendig erhalten hätten. Nur noch wenige von ihnen seien noch am Leben, und es sei ihm gelungen, die Familien von einer von ihnen ausfindig zu machen. Unglücklicherweise sei die Frau vor kurzem gestorben. Ihre Familie hätte viele seiner Fragen nicht beantworten können und hätte ihm geraten, sich an Elizabeth zu wenden. Sie hätten ihm erzählt, dass auch sie eine Ärztin sei. Da sie sich lange um ihre alte Mutter gekümmert und sie regelmäßig gesehen hätte, müsse sie die alte Medizinfrau gut gekannt haben und werde ihm sicher all seine Fragen beantworten können.
Elizabeth lächelte reumütig. „Das war mir eine Lektion, die ich nie vergessen werde“, sagte sie. „Wenn ich daran denke, wie sie dagesessen und mich beobachtet hat, während ich in meinen Papieren geblättert und Labordaten verglichen habe – und dabei wusste, was sie wusste. Ich frage mich, was ihr wohl durch den Kopf gegangen ist. Ich war so beschäftigt mit meinen Zahlen und meinen Tests. Was würde ich heute geben, um noch einmal eine Stunde mit ihr reden zu können, um ihr einige meiner unbeantworteten Fragen stellen und ihre Meinung über Leiden oder Verlust oder Krankheit oder Tod hören zu können. Oder um sie einfach um ihren Segen zu bitten.“
Manchmal frage ich mich, ob allzu große wissenschaftliche Objektivität uns nicht blind machen kann. Elizabeths Geschichte macht mich nachdenklich. Ich frage mich, wie viele Gelegenheiten ich selbst verpasst habe, wie oft Weisheit an mir vorübergegangen ist, weil ich in Labordaten vertieft war. Wahrscheinlich etliche Male.