Читать книгу Aus Liebe zum Leben - Rachel Naomi Remen - Страница 16
ОглавлениеBesitztümer
Vor langer Zeit wurden der kleine Sohn eines befreundeten Ehepaares und ich selbst gute Freunde. Wir spielten oft lange mit seinen beiden kleinen Autos; wir fuhren damit über die Fensterbretter, parkten sie ein, ließen sie Rennen machen und erzählten uns dabei die ganze Zeit, was wir bei unseren „Fahrten“ auf der Straße an uns vorbeiziehen sahen. Manchmal hatte ich das Auto mit dem Sprung im Rad, manchmal hatte er es. Wir hatten eine Menge Spaß, und ich liebte diesen kleinen Jungen von Herzen.
Damals sammelten die meisten sechsjährigen Jungen diese kleinen „Hot Wheels“-Autos mit Leidenschaft. Kenny träumte davon, mehr von ihnen zu besitzen, und ich hätte ihm liebend gern weitere Autos gekauft, wusste aber nicht, wie ich das anstellen sollte, ohne meinen Freunden weh zu tun. Kennys Vater war Künstler und Laienprediger, und seine Mutter war eine Hausfrau, die alles, was sie anrührte, schöner machte. Sie führten tatsächlich ein sehr reiches Leben, aber sie hatten sehr wenig Geld.
Dann begann eine der großen Tankstellenketten eine „Hot Wheels“-Geschenkaktion: ein Auto für jedes Volltanken. Ich war begeistert. Schnell hatte ich das ganze Team in meiner Klinik überredet, einen Monat lang nur diese Benzinmarke zu kaufen, und ich organisierte die ganze Unternehmung mit Checklisten so durch, dass wir nicht mit zwei Feuerwehrautos oder Porsches oder Volkswagen ankamen. Innerhalb eines Monats hatten wir alle „Hot Wheels“-Typen, die damals hergestellt wurden, zusammengebracht, und ich schenkte sie Kenny in einem großen Karton. Sie füllten alle Fensterbretter im Wohnzimmer – und dann hörte er auf, damit zu spielen. Verblüfft fragte ich ihn, warum er seine Autos nicht mehr liebe. Er schaute weg und sagte dann mit unsicherer Stimme: „Ich weiß nicht, wie ich so viele Autos lieben soll, Rachel.“ Seitdem achte ich sehr darauf, nicht mehr „Hot Wheels“ zu besitzen, als ich lieben kann.
Viele Menschen haben viel zu viele „Hot Wheels“, um sie noch lieben zu können. Das kann zu einem Gefühl der Leere führen. Eine Frau, die zu einem neuen Leben gefunden hat, nachdem sie ihren Krebs überwunden hatte, erzählte mir einmal, dass sie sich immer leer gefühlt habe, bevor sie krank wurde. „Darum musste ich immer mehr und mehr Dinge besitzen. Ich sammelte immer mehr Kram an, immer mehr Bücher, Magazine, Zeitschriften, und immer mehr Menschen – was alles nur noch schlimmer machte, weil ich immer weniger erfahren konnte, je mehr ich ansammelte. ‚Alles haben und nichts genießen.‘ Das hätte man als Motto auf meine Wohnungstür schreiben können. Und die ganze Zeit dachte ich, ich würde mich leer fühlen, weil ich nicht genug besäße.“
Das Umdenken begann mit einem Bademantel, eines der wenigen Dinge, die sie zu ihrer Krebsoperation ins Krankenhaus mitgenommen hatte. Jeden Morgen zog sie ihn an und freute sich daran, wie kuschelig er war. Sie freute sich an seinen Farben und daran, wie er um sie herumschwang, wenn sie sich bewegte. Dann ging sie im Flur damit spazieren. „Eines Morgens, als ich ihn anzog, hatte ich ein überwältigendes Gefühl der Dankbarkeit“, erzählte sie mir. Sie sah mich etwas verlegen an. „Ich weiß, das hört sich komisch an, aber es war ein solches Glück, ihn einfach zu haben. Aber das Komische daran ist, Rachel, dass er nicht einmal neu war“, sagte sie. „Ich besaß ihn schon seit einigen Jahren und hatte ihn immer wieder mal getragen. Aber vielleicht weil er einer von fünf Bademänteln in meinem Schrank war, hatte ich ihn nie richtig wahrgenommen.“
Als ihre Chemotherapie vorüber war, veranstaltete diese Frau einen großen Flohmarkt und verkaufte mehr als die Hälfte aller Dinge, die sie besaß. Lachend erzählte sie mir, ihre Freunde hätten gedacht, sie sei ein bisschen „chemo-verrückt“ geworden, aber sie hätte sich danach viel besser gefühlt. „Ich hatte keine Ahnung, was ich alles in meinen Schränken, Schubladen und auf meinen Bücherregalen hatte. Und die Hälfte der Leute, deren Telefonnummern in meinem Telefonverzeichnis standen, kannte ich auch nicht wirklich, Rachel. Viele von ihnen haben mir niemals auch nur eine Postkarte geschickt. Heute besitze ich weniger Dinge und habe weniger Bekannte, aber ich fühle mich nicht mehr leer. Haben und erfahren sind zwei verschiedene Dinge. Haben bedeutete, nie genug zu haben.“
Wir saßen einige Minuten schweigend da und sahen zu, wie die Sonne Schatten auf den Teppich meines Sprechzimmers warf. Dann blickte sie auf und sagte: „Vielleicht gehört uns tatsächlich nur so viel, wie wir lieben können.“