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Am Ende des Tages

Im Jahre 1998 installierte Commonweal, das Zentrum, in dem ich arbeite, ein Labyrinth, das dem seit dem 14. Jahrhundert in der Kathedrale von Chartres zu findenden Labyrinth gleicht. Das Labyrinth ist eine Gehmeditation in Form eines kreisförmigen Musters auf dem Fußboden eines Raumes so groß wie eine Aula. Ein schmaler Pfad schlängelt sich innerhalb dieses großen Kreises vor und zurück, und wer das Labyrinth abschreitet, folgt diesem Pfad, der sich immer wieder um- und zurückwendet, langsam und Schritt für Schritt, bis er schließlich im Zentrum angelangt ist. Die Entfernung vom Eingang bis zum Zentrum des Labyrinths beträgt etwa 500 Meter.

Das Labyrinth abzuschreiten ist eine verblüffende Erfahrung. Am Anfang scheint man unmittelbar auf das Zentrum zuzugehen und ist doch noch ganz weit von ihm entfernt, und noch ganz kurz bevor man tatsächlich ins Zentrum gelangt, bewegt man sich fast am äußersten Rand des Kreises. Wenn wir das Labyrinth abgehen, bringt es uns dazu, uns mit der Welt der Illusion auseinanderzusetzen, dem Unterschied zwischen unserer scharf umrissenen Wahrnehmung des Laufs der Welt und dem tatsächlichen Lauf der Welt. Das kann eine Erfahrung sein, die uns bescheidener macht. Oft fördert sie in Menschen die Bereitschaft, über den ersten Augenschein hinaus zu schauen und auf unerwartete Wendungen zu hoffen.

Bei dieser Gehmeditation kann es zu vielen Einsichten kommen. Als ich das erste Mal im Zentrum des Labyrinths stand, hatte ich einen komischen Gedanken. Um mich herum erstreckte sich der Pfad, den ich vom Anfang an gegangen war, mit all seiner Kompliziertheit, seinen Frustrationen und seinen vielen Wendungen. Er war vollständig, und plötzlich wurde mir klar, dass ich, auch wenn es oft ganz anders ausgesehen hatte, immer unterwegs zum Zentrum gewesen war. Vielleicht traf das ja auch für mein Leben zu. Könnte es sein, dass Ereignisse, die im Moment sinnlos oder gar umsonst erschienen, mich genauso sicher zu meiner Bestimmung hinführten wie der vielfach gewundene Pfad, den ich gerade beschritten hatte? Vielleicht kam mir der Pfad nur so willkürlich vor, weil ich noch unterwegs war. Würde ich am Ende, vom Zentrum aus, mein Leben vielleicht eines Tages als ebenso vollständig und ganz erfahren und in allem eine Richtung und ein verborgenes Muster erkennen – ein Muster, das Verlust und Versagen und Schmerz in ganz neuem Licht erscheinen und ihren Sinn und Wert vollkommen verändern würde?

Vielleicht ist das die Perspektive, die der Tod uns ermöglichen wird, jener Augenblick, in dem wir mitten in dem Mysterium stehen, welches das Zentrum unseres Lebens ist. Viele Menschen haben mir berichtet, der Tod sei für sie mit einer größeren Klarheit verbunden. Einige dieser Menschen sind selbst dem Tod sehr nahe. Andere sind Ehemänner oder Ehefrauen, Kinder oder Freunde von Verstorbenen. Sie fanden, dass sie durch den Tod dieser Person etwas ihnen sehr Vertrautes, das sie dennoch zuvor nie klar erkannt hatten, zum ersten Mal klar sehen konnten. Oft wird das Muster, das einem Leben innewohnt, ein ihm zugrundeliegender Sinn, erst dann sichtbar, wenn das Leben sich vollendet hat.

Der Sohn eines meiner Patienten kam einige Wochen nach dem Tod seines Vaters zu mir in die Praxis. Ihre Beziehung war sehr schwierig gewesen: Der Sohn war ein abenteuerlustiger, alles Herkömmliche radikal in Frage stellender Künstler, der Vater war ein konservativer und penibler Geschäftsmann gewesen, dessen Voreingenommenheit seinen Sohn schon in jungen Jahren aufgebracht hatte. An seinen Vater zurückdenkend, sprach er über ihre Verschiedenheit:

„Ich muss immer wieder an die Dinge denken, die er oft gesagt hat und die mich auf die Palme gebracht haben – ‚Schau genau hin, bevor du etwas unternimmst oder Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste‘ – und wie ungern er irgendein Risiko einging. In meiner Jugend hatte ich stets den Eindruck, dass jeder Schritt, den er unternahm, vorher vielfach skeptisch beäugt und begutachtet wurde. Kürzlich habe ich einem großen Museum eine große Ausstellung verkauft, und nachdem ich dem Aufsichtsrat mein Projekt präsentiert hatte, sprach mich eines der Aufsichtsratsmitglieder an und sagte: ‚Wie hätten wir Ihren Vorschlag ablehnen können? Sie haben schon alle unsere Einwände vorweggenommen und eine Lösung dafür vorgeschlagen. Ihre Einbeziehung sämtlicher Risiken war so lückenlos, dass wir einfach einverstanden sein mussten.“ In jenem Moment sah ich meinen Vater plötzlich ganz anders. Durch ihn habe ich gelernt, meinen Träumen ein solides Fundament zu geben.

Ich bin ein Baumeister neuer Ideen und neuer Formen. Vorher war mir nicht klar, dass auch mein Vater ein Baumeister gewesen ist: Was er gebaut hat, das waren Fundamente, Fundamente für Werte, Fundamente finanzieller Sicherheit. Ja, er war rigide, aber ein gutes Fundament muss eben fest sein. Wie ein Kompass wies er stets genau nach Norden. Sein ‚Norden‘ waren Sicherheit und Vorsicht. Ich hatte immer angenommen, dass er mir mit seiner Richtungsweisung sagen wollte, ich müsse dieselbe Richtung einschlagen. Ich glaube, das war ein Fehler. Es bedeutete im Grunde, dass er den Norden als Fixpunkt vorgab und ich mich an diesem verlässlichen Orientierungspunkt ausrichten konnte. Er hat mich nie im Stich gelassen.

Ich habe mit meiner Mutter darüber gesprochen, und sie hat mir empfohlen, ein Gedicht aus Kahlil Gibrans Der Prophet zu lesen, das Gedicht über die Kinder. Die letzte Strophe hat mich wirklich umgehauen. Er spricht davon, dass wir nie in der Lage sind, unseren Kindern zu folgen oder sie auch nur zu verstehen, weil sie einer Zukunft angehören, die wir selbst nie besuchen können, nicht einmal in unseren Träumen. Dann vergleicht er die Eltern mit einem Bogen und die Kinder mit den Pfeilen. Er sagt den Eltern: ‚Möge das Biegen in des Schützen Hand euch zur Freude gereichen; / Denn gleich wie Er den fliegenden Pfeil liebt, so liebt Er auch den Bogen, der standhaft bleibt.‘ 1 – ‚Der Bogen, der standhaft bleibt“, ich habe geweint, als ich das gelesen habe. Das war mein alter Herr. Er war das Fundament unter meinen Träumen.“

Er schwieg für einen Augenblick. Dann lächelte er mir zu und sagte: „Ich schätze, ich habe das erst begriffen, als er nicht mehr da war.“

1 Khalil Gibran, Der Prophet, Olten und Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag, 31974, S. 17.

Aus Liebe zum Leben

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