Читать книгу Aus Liebe zum Leben - Rachel Naomi Remen - Страница 17

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Einstimmung

Als Teil einer Forschungsarbeit ließ ich einmal dreiundsiebzig Ärzte dieselbe Liste von einundzwanzig Werten zweimal in eine Rangordnung bringen, und zwar einmal danach, was für sie das Wichtigste in ihrer Arbeit war, und dann danach, was für sie persönlich die wichtigsten Werte darstellten. Die Liste enthielt Werte wie Bewunderung, Kontrolle, Weisheit, Kompetenz, Liebe, Macht, Mitgefühl, Glück, Ruhm, Erfolg und Freundlichkeit.

Keiner der Testteilnehmer machte zwei identische Listen, und bei vielen wiesen die Listen erstaunliche Unterschiede auf. So kann Freundlichkeit zum Beispiel auf Platz zwei der für das persönliche Leben wichtigen Werte einer Person stehen, aber nur auf Platz fünfzehn der für die Arbeit wünschenswerten Werte. Kompetenz kann auf der Liste der professionellen Werte auf Rang eins stehen und auf der der privaten Werte an letzter Stelle. Viele der Teilnehmer waren erschreckt, als sie feststellten, dass sie ganz anders lebten, als sie im Innersten dachten. Der Test hatte sie zum ersten Mal auf diesen Unterschied aufmerksam gemacht. Als wir die Ergebnisse diskutierten, meinte eine überraschend große Zahl der Ärzte, dass es einfach nicht möglich sei, nach den Werten zu leben, die sie persönlich für besonders wichtig hielten. Wie einer der Ärzte sagte: „Das Leben macht uns kleiner.“ Aber natürlich nur, wenn wir das zulassen.

Was für diese Ärzte galt, das gilt, glaube ich, für uns alle. Viele von uns machen täglich die Erfahrung, dass sie ihre Integrität der Zweckdienlichkeit opfern. Zahllose Menschen mit Krebs haben mir anvertraut, dass sie ihrer eigenen Wahrheit schon seit Jahren anderen gegenüber nicht mehr Ausdruck gegeben hätten, sei es dass sie Zurückweisung oder irgendeine andere Form von Verlust fürchteten, sei es, dass sie sich in ihrer Lebens- oder Arbeitswelt von Menschen umgeben fänden, die die Dinge anders sähen als sie selbst. Sie hätten sich unsichtbar gemacht, um ihr Überleben sichern oder ihren Status quo aufrechterhalten zu können. Aber wenn wir nicht im Einklang mit uns selbst leben, dann beginnt etwas in uns zu zerfallen. Wir mögen zwar überleben, aber wir werden nie ganz oder völlig lebendig sein.

Es hat mich überrascht, zu sehen, wie oft die Menschen nicht erkennen, dass ihre tiefsten Werte so individuell sind wie ihre Fingerabdrücke. Da wir dies nicht wissen, haben viele von uns bestimmte Dinge geopfert, um andere Dinge zu haben, von denen man uns gesagt hat, sie seien wichtiger. Einige der Dinge, die wir so haben fahren lassen, um als erfolgreich angesehen zu werden, mögen für uns persönlich letztlich weit wichtiger sein als einige der Dinge, an denen wir festgehalten und um die wir sogar gekämpft haben. Manchmal braucht es ein Warnsignal wie den Krebs, um uns zu uns selbst zurückzubringen. Die Krise der Krankheit kann dazu führen, dass wir das Leben, das wir konstruiert haben, abschütteln und zu dem Leben zurückkehren können, das unser eigenes ist. Oft ist das, was sich dann als wichtig erweist, durchaus keine Überraschung. Ein an Krebs erkrankter Patient, der eine Führungsposition bei einer großen Firma hatte, sagte mir einst: „Ich habe immer gewusst, worauf es wirklich ankommt. Aber vorher habe ich geglaubt, nicht das Recht zu haben, auch danach zu leben.“

Als sich herausstellte, dass Harry Darmkrebs hatte, saß er in der Chefetage einer großen Versicherungsgesellschaft. Er war der erste Spross einer Familie von Landwirten, der die Universität besucht hatte, und er hatte sich akademisch praktisch von Anfang an durch besondere Leistungen hervorgetan. In seiner Branche war er als strebsamer, strategisch raffinierter und ehrgeiziger Mann bekannt, für den die Karriere das Wichtigste im Leben darstellte. Sein Krebs war schon früh diagnostiziert worden und seine Heilungschancen waren ausgezeichnet. Jedermann rechnete damit, dass er wieder hinter seinem Schreibtisch sitzen würde, sobald die Operationsnarben geheilt waren. Aber zwei Tage, nachdem Harry zur Arbeit zurückgekehrt war, kündigte er zur großen Überraschung aller.

Seine Firma glaubte, er habe ein besseres Angebot erhalten, aber das war nicht der Fall. Etwa ein Jahr lang arbeitete Harry überhaupt nicht. Dann kaufte er sich einen Weinberg und zog mit seiner Familie dorthin. Seit fünf Jahren baut er nun Wein an und arbeitet als Winzer.

„In dem Moment, als ich aus der Narkose erwachte, Rachel“, erzählte er mir, „wusste ich ohne jeden Zweifel, dass ich das Leben eines anderen führte. Es hatte so viel Druck von Seiten meiner Familie gegeben, erfolgreich zu sein. Sie waren so stolz darauf, dass ich es geschafft hatte, dem harten Leben zu entkommen, das meine Familie seit Generationen geführt hatte. Zuerst hat mich die Herausforderung all dessen fasziniert. Ich fragte mich, ob ich es wohl schaffen könnte, und dann habe ich einfach immer so weiter gemacht. Irgendwann im Lauf der Ereignisse habe ich dann aufgehört, auf mich selbst zu hören. Mein Vater war Landwirt, und mein Großvater und mein Urgroßvater waren es ebenfalls. Mein Vater hasste diese Arbeit, aber ich bin ein anderer Mensch als er. Ich verstehe das Land, und es bedeutet mir etwas. Ich kenne diese Arbeit, wie ich mich selbst kenne. Ich gehöre auf eine Weise hierher, wie ich nie anderswo hin gehört habe.“

Wir saßen auf der Terrasse seines Hauses und blickten hinaus über ein weites grünes Meer von Weinranken, die im Wind schwankten. An den Rändern der Weinberge wuchsen rosafarbene Rosen. Rückversicherung und Management gehörten zu einer anderen Welt. Als hätte er meine Gedanken gelesen, sah er mich mit einem bedauernden Lächeln an: „Ich habe immer geglaubt, genau das zu tun, was ich tun wollte, und ich bin stolz darauf gewesen, dass ich in meinem Familien- und Berufsleben so überaus selbstbestimmt war. Es war ziemlich hart, einsehen zu müssen, dass ich mich dermaßen an das Geschäft verkauft hatte, dass ich es selbst gar nicht mehr bemerkte.“

Integrität ist ein fortlaufender Prozess, eine sich durch die Zeit erstreckende Dynamik, die unsere dauernde Aufmerksamkeit verlangt. Ein Kollege, der seine eigene Weise beschrieb, sich selbst treu zu bleiben, erzählte mir, er sehe das Leben als ein Orchester an. Seine Integrität zu wahren, erinnere ihn an den Moment vor dem Konzert, wo der Dirigent den Oboisten bittet, ein A zu spielen. „Zuerst ist da Chaos und bloßer dissonanter Krach, während alle Instrumente auf diese Note eingestimmt werden. Aber jedes Instrument nähert sich diesem Ton immer mehr an, der Krach lässt nach, und wenn schließlich alle genau auf den Ton eingestimmt sind, gibt es einen Moment der Ruhe, der Heimkehr.

Genauso fühlt sich das bei mir an. Ich bin immer dabei, mein Orchester einzustimmen. Irgendwo tief in mir ist ein Ton, der allein mein Ton ist, und ich kämpfe täglich darum, diesen Ton zu hören und mein Leben darauf einzustimmen. Manchmal begegne ich Menschen und Situationen, die mir helfen, meinen Ton klarer zu hören; manchmal machen bestimmte Menschen und Situationen es mir schwer, ihn zu hören. Doch viel hängt auch davon ab, wie fest ich entschlossen bin, zu hören und im Einklang mit diesem Ton zu bleiben. Nur wenn mein Leben auf meinen Ton abgestimmt ist, kann ich die geheimnisvolle und heilige Musik des Lebens spielen, ohne sie durch meine eigenen Dissonanzen zu verderben, durch meine Bitterkeit, meine Ablehnung, meine Pläne und meine Ängste.“

Tief da drinnen klingt unsere Integrität – ob wir ihr zuhören oder nicht. Es ist ein Ton, den nur wir selbst hören können. Wenn das Leben uns schließlich dazu bringt, auf diesen Ton zu hören, dann wird er uns den Weg nach Hause weisen.

Aus Liebe zum Leben

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