Читать книгу Aus Liebe zum Leben - Rachel Naomi Remen - Страница 11

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Das Muschelspiel

Das Potential für spirituelle Erfahrung ist etwas so Universales, dass jede Sprache einen Namen dafür hat: der Âtman, die Neshuma, der Ra, der Purusha, die Ruach, der Göttliche Funke. Die Seneca-Irokesen nennen es Orenda; der große Mystiker Meister Eckhart nannte es den Gottessamen. Wir nennen dieses Vermögen die Seele. Die Seele ist die Grundlage für den Wert jedes einzelnen menschlichen Lebens, sie ist das Fundament unserer Erfahrung von Ganzheit und Integrität, unabhängig von physischem Wandel. Sie mag auch die Quelle unserer Heilung sein.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass man begonnen hat, Krankheit und Heilung in Begriffen des Körpers zu definieren. Am Anfang der Medizin, bei den Schamanen oder Medizinmännern, wurde Krankheit nicht in Begriffen der Pathologie, sondern in der Sprache der Seele definiert. Nach Vorstellung der Alten war Krankheit ein „Verlust der Seele“, ein Verlust von innerer Ausrichtung, Zweck, Sinn, dem Mysterium, der Ehrfurcht. Zur Heilung gehörte nicht nur eine Erholung des Körpers, sondern auch ein Zurückholen der Seele.

An Krebs erkrankten Menschen als ihr Arzt zuzuhören und mit meiner eigenen chronischen Krankheit zu leben, hat mir viel über die Macht der Krankheit verraten, uns die Seele und ihre Anliegen näher zu bringen. Diese Erfahrungen haben mir gezeigt, dass die Seele nicht nur ein menschliches Vermögen ist; in Zeiten des Verlusts, der Krankheit und der Krise ist sie eine menschliche Notwendigkeit. Zu solchen Zeiten ist das Geistige eine Stärke.

Die Sprache der Seele ist die des Sinns. Wir entdecken die Seele vielleicht dann zum ersten Mal, wenn die Geschehnisse in unserem Leben das Bedürfnis nach Sinn in uns wecken. Im Falle einer schweren oder chronischen Erkrankung beginnen selbst Menschen, die zuvor niemals auch nur einen Gedanken an diese Dimension des Lebens verschwendet haben, instinktiv nach einem Sinn in den Geschehnissen zu suchen, die ihr Leben derart aus den Fugen bringen. Sinn hilft uns, im Dunkeln zu sehen. Er stärkt den Lebenswillen in uns.

Als ich in den sechziger Jahren auf die Universität ging, betrachtete man den Sinn von Krankheit als etwas Irrelevantes. Damals wussten wir nicht, dass es eine gesunde Weise gibt, krank zu sein, eine Weise, diese schwierige Erfahrung dazu zu nutzen, uns selbst besser kennenzulernen und herauszufinden, was wichtig für uns ist. Wir waren auf das reine Kurieren einer Krankheit und nicht auf Heilung ausgerichtet. Wissenschaft und das von ihr vermittelte Wissen kurieren, aber oft ist es der Sinn, der uns heilt. Eine solche Heilung ist etwas höchst Individuelles. Dieselbe Krankheit bedeutet für verschiedene Menschen, die von ihr betroffen werden, etwas völlig Verschiedenes. Mit der Zeit heilt Sinn sehr viele Dinge, die sich nicht kurieren lassen.

Sinn zu finden, verlangt nicht unbedingt, dass wir anders leben als bisher – wir müssen nur unser Leben anders sehen. Viele von uns führen schon längst ein viel sinnvolleres Leben, als sie glauben. Wenn wir über das Oberflächliche hinausgehen und zum Wesentlichen gelangen, dann zeigen sich Dinge, die uns sehr vertraut, ja sogar völlig selbstverständlich waren, plötzlich in einem ganz neuen Licht. Sinn kann die Weise, uns selbst und die Welt anzuschauen, völlig verändern. Menschen, die sich selbst zuvor für Opfer gehalten haben, mögen überrascht herausfinden, dass sie eigentlich Helden sind.

Es kann geschehen, dass Menschen sich durch eine Krankheit zum ersten Mal selbst kennenlernen und nicht nur herausfinden, wer sie in Wahrheit sind, sondern auch, was wirklich wichtig für sie ist. Als Ärztin habe ich viele Menschen in dem Prozess begleitet, durch den sie eine unvermutete Stärke in sich selbst gefunden haben, einen Mut, der über alles hinausging, was sie sich zugetraut hatten, ein unverhofftes Mitgefühl oder eine Fähigkeit, tiefer zu lieben, als sie sich je hatten träumen lassen. Ich habe miterlebt, wie Menschen Wertvorstellungen fallen ließen, die sie nie zuvor in Frage gestellt hatten, und den Mut aufbrachten, auf völlig neue Weise zu leben. Oft war es eine Weise, die sehr viel beseelter war als zuvor.

Als ich vor über fünfundvierzig Jahren an der Crohn Krankheit erkrankte, fühlte ich mich zuerst zutiefst beeinträchtigt, anders als die anderen, und ich schämte mich dessen sogar. Ich wusste damals noch nicht, dass die Seele durch das, was den Körper in Frage stellt, gefördert und gestärkt werden kann. Ich war ganz auf das Kurieren meiner Krankheit ausgerichtet und verzweifelte daran, dass es nicht möglich war. Ich brauchte Jahre, bis ich erkannte, dass etwas in mir sich auf Ganzheit zubewegt hatte, während meine Aufmerksamkeit ganz woanders gefesselt war.

Aus Liebe zum Leben

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