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Der Morgen danach

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Als Paul am nächsten Tag erwachte, kam ihm die nächtliche Odyssee wie ein schlechter Traum vor. Dann allerdings hätte er den Abend mit Nina nur auch geträumt. Ein Blick auf die Anrufliste seines Handys beruhigte ihn. Da stand sie, Ninas Telefonnummer.

Doch der bereits vorangeschrittene Morgen ließ ihm wenig Zeit zum Nachdenken. Seine Fotoarbeit musste fertig werden, auch wollte er sich notfalls mit Levi nochmals auf die Suche nach Rebecca machen. Doch Levi war bereits außer Haus, und Marc schlief noch.

Paul suchte im Kühlschrank nach Essbarem. Der Laptop für die Auswahl der Fotos stand eingeschaltet auf dem Tisch. Beim Betrachten der Gartenbilder fand sich auch der eine oder andere Schnappschuss von Nina, und sein Magen zog sich vor Vorfreude auf ein Wiedersehen angenehm schmerzhaft zusammen. Am liebsten hätte er die ganze tröge Fotoarbeit vom Tisch gewischt, Ninas Nummer gewählt und sich für die nächsten 50 Jahre mit ihr verabredet.

Stattdessen bastelte er den ganzen Vormittag an der Zusammenstellung der Details im Verhältnis zum Ganzen, deren theoretischen Teil er zum Glück schon vor Tagen fertig gestellt hatte. Dabei kam eine ordentliche Anzahl Unrat im Paradies zusammen, die er sortierte, collagierte, diskutierte und entsorgte, bis ein großer Stapel Fotos im Müll und eine kleine, feine Auswahl verteilt und ausgedruckt auf zwanzig Seiten Seminararbeit landeten.

Marc war zwischenzeitlich aufgestanden und hatte sich mit Kaffee und Zeitung zu Paul in die Küche gesetzt.

»Gibt’s was Neues von Rebecca?«

»Nichts, aber Levi ist wohl schon wieder auf der Suche. Sobald ich hier fertig bin, ruf ich ihn an. Magst mit?«

»Vielleicht später, jetzt muss ich erst zum Zahnarzt und später für meine Mutter etwas zum Geburtstag kaufen. Klingt vielleicht hart, aber eigentlich ist es mir egal, was die Psychotante mit sich anstellt. Aber das muss Levi ja nicht unbedingt wissen.«

»Hmm, sehe ich ähnlich, aber irgendwie mag ich ihn auch nicht allein mit dieser Sache lassen. Ich glaube, er leidet schon genug unter der Trennung und jetzt auch noch diese Selbstmordkiste.«

Marc nickte nur und vertiefte sich in seine Zeitung.

»Was schaust du eigentlich ständig auf dein Handy, wartest du auf was?«, wunderte er sich nach einer Weile über Paul.

Dieser grinste verlegen, beschloss aber die Sache mit Nina vorerst noch für sich zu behalten.

»Keine Ahnung, fiel mir gar nicht auf. Fährst du am Wochenende zu deiner Mutter?«

»Ja, muss wohl«, reagierte Marc knapp, womit das Gespräch beendet war. Marc hatte kein allzu gutes Verhältnis zu seinen Eltern. Die ließen sich scheiden, als er vierzehn war. Seine Mutter heiratete kurz darauf wieder und bekam das Sorgerecht für ihn und seinen zwei Jahre älteren Bruder, der sich ein Jahr später umbrachte. Sein Stiefvater brachte seine Tochter Trish mit in die Ehe, und zusammen mit seinem später geborenen Halbbruder Ben wuchs eine neue Familie heran, in die sich Marc nicht zu integrieren wusste. Unmittelbar nach dem Abitur zog er von zuhause aus, begann eine Fotolehre und arbeitete einige Jahre für die Zeitschrift Wohnen und Leben. Danach war er freier Mitarbeiter für verschiedene Verlage und hatte sich vor wenigen Monaten mit einem Atelier im Keller seines Hauses selbständig gemacht.

»Was machst du da eigentlich?«, fragte er Paul und griff, ohne eine Antwort abzuwarten, nach dessen Seminararbeit.

»Nichts besonders, nur eine Übung fürs Studium«, versuchte Paul die Sache herunter zu spielen. Ihm war es peinlich, ausgerechnet mit Marc seine hastig geschossenen Fotos diskutieren zu müssen. Der aber blätterte interessiert in der Mappe und nickte.

»Interessante Idee. Deine?«

»Meine, aber keine Ahnung, ob sie das Thema trifft.«

»Wird sich zeigen, aber schau mal hier. Diese Makroaufnahmen machst du besser mit Zoom aus einiger Entfernung. Dann hebt sich das Motiv schärfer vom Hintergrund ab.«

»Danke, doch für die Arbeit kommt der Tipp zu spät.«

Paul hatte im Augenblick keine Lust, sich über Fotografie zu unterhalten, zu sehr dachte er über die letzte Nacht und Nina nach. Marc musste das gespürt haben, denn er vertiefte sich ohne ein weiteres Wort wieder in seine Zeitung.

Einige Zeit, nachdem auch Marc die WG verlassen hatte, packte Paul seine Unterlagen zusammen und machte sich auf den Weg zur Uni. Dort hoffte er, noch rechtzeitig vor Küchenschluss in der Mensa zu sein. Er war nicht recht zufrieden mit seiner Seminararbeit. Thema und Fotos waren zwar ganz gut, doch die Zeit hatte nicht gereicht, ein wirklich originelles Ergebnis abzuliefern. Egal, dachte er, ist doch nur eine Note.

Paul machte sich völlig unnötig Gedanken. Sein Dozent war erkrankt, der Abgabetermin verschoben, und der Rest des Nachmittags stand ihm zur freien Verfügung. Levi hatte auf seine Anrufe nicht reagiert, und so beschloss Paul, Bones zu besuchen, um zu erfahren, was es zu besprechen gab. Außerdem wollte er sich ein wenig ablenken, ohne immerfort an Nina denken zu müssen, ständig auf sein Handy zu schauen und die Minuten bis zum nächsten Wiedersehen zu zählen.

Ob sie wohl ähnlich denkt, grübelte er. Vielleicht sollte ich mich bei ihr melden, ihr eine SMS schicken, anrufen? Ihr sagen, was mir der Abend bedeutet hat. Paul hatte bereits mehrfach angesetzt, erste Zeilen an Nina in sein Mobiltelefon zu tippen, wieder gelöscht und neu formuliert. Was, wenn ihr der Abend egal war, oder sie gerade jetzt jemand anderen, ihre große Liebe kennen lernt, zermaterte er sich das Hirn. Wäre es dann nicht sinnvoll, sie an mich und unser Treffen zu erinnern? Nur, um mich zu überzeugen, dass ich mir unnötig Sorgen mache. Nur, um ihre Stimme zu hören, ein Lebenszeichen, ob sie sich freut, von mir zu hören?

Von diesen Gedanken getrieben suchte Paul Bones. Dieser war seinerseits auf der Suche nach Bernd, mit dem er am Vormittag einen Brauereitermin gehabt hätte. Doch Bernd war nicht aufgetaucht.

Paul fand den Henker verschlossen, und Bones war es leid, auf die Mailbox von Bernd zu sprechen. Stattdessen saß er im Auto auf dem Weg zur Großmarkthalle, als sein Handy klingelte. Paul war auf der anderen Leitung und wollte ihn treffen.

»Bin später im Henker und morgen Abend im Kino. Aber falls du Bernd siehst, sag ihm, ich müsste ihn sprechen. Er geht nicht an sein scheiß Telefon«, vertröste er Paul einsilbig.

Diesem war es egal, wollte doch Bones was von ihm, und er beschloss, Nina keine Nachricht zu schicken.

Da erreichte ihn Levi auf dem Telefon. Er hatte Rebecca nicht gefunden, allerdings bei ihren Eltern angerufen, um nachzufragen, ob sie sich zufällig dort gemeldet habe. Erreicht hatte er aber nur Rebeccas jüngerer Bruder, der seit Wochen nichts von seiner Schwester gehört zu haben schien, kaum dass es ihn interessierte. Den Vormittag über war Levi nochmals einige ehemals gemeinsame Plätze abgefahren, nachdem er sich in der Hoffnung auf ein Lebenszeichen knapp eine Stunde vor ihr Haus gestellt hatte, wo er beinahe Bernd in die Arme gelaufen wäre.

»Bernd?«, zeigte sich Paul überrascht.

»Den sucht Bones seit Stunden. Wo hast du ihn getroffen?«

»An der Pommesbude im Park gegenüber Rebeccas Wohnung. Ich hatte mir grad nen Kaffee geholt, als Bernd ums Eck kam und eine Currywurst bestellte. Hat mich aber nicht gesehen.«

»Das wird Bones interessieren, denn soweit ich weiß, wohnt Bernd im Kreisselviertel, und das liegt auf der anderen Flussseite. Wann war das?«

»Gegen Zehn, denn danach hatte ich noch mal bei Beca geklingelt, leider vergebens. Aber meinst du, ich sollte zur Polizei gehen?«

»Meine ehrliche Meinung?«, fragte Paul in das Schweigen am anderen Ende der Leitung.

»Klar.«

»Dann lass es.«

Währenddessen zog sich Rebecca zum dritten Mal um, sie wollte den ersten Eindruck nicht dem Zufall überlassen. Bernd war noch vor dem Frühstück gegangen. Gerade als sie unter der Dusche stand, läutete es, aber sie rechnete nicht mit dessen Rückkehr und ignorierte das Klingeln. Bernd hatte Recht. Sie konnte sich unmöglich so abspeisen lassen, hatte sie doch drei Jahre ihres Lebens in diesen Mann investiert, und Rechnungen mussten bezahlt werden. Sie war es, die Männern den Laufpass gab. Was nur bildete sich dieses Fabrikantenbürschchen ein, sie so zu demütigen. Am meisten hasste sie die Vorstellung, welche Genugtuung es für Levis Vater sein musste, sie endlich aus dem Haus zu wissen. Doch das Lachen sollte ihm noch vergehen. Verletzt hatte sie aber auch dieses eisige Schweigen all der Leute auf dieser WG-Party am Tag vor ihrer Trennung, zu der man sie erst gar nicht eingeladen hatte.

Auf einer dieser Partys hatte sie Bernd kennen gelernt, als man sie zu vorgerückter Stunde in den Henker schleppte, um dort weiter zu feiern, sie aber müde war und gehen wollte. Geschlagene fünf Minuten wartete sie damals auf dem Parkplatz vor der Wirtschaft, ohne dass sich einer der Herren bequemte, sie heim zu fahren. Da kam Bernd zum Rauchen raus und fragte, was eine so schöne Frau spät nachts vor seiner Kneipe herum stehen müsse. Das waren die Worte, die sie vermisste, und sie blieben in Kontakt. Sie hatte Levi nie von diesem Treffen erzählt. Auch nicht von den wenigen Malen, die sie seitdem mit Bernd geschlafen hatte. Wieso damit ihren Freund behelligen? Ex-Freund, korrigierte sich Rebecca und knallte den eben aus dem Schrank genommenen Rock wütend zu den bereits wüst im Zimmer verteilten Klamotten. Der wird sich noch wünschen, mich nie kennen gelernt zu haben, beendete sie den Gedanken an Levi.

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