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Der Gute Nachtkuss

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»Danke, sehr nett«, lächelte Nina, hakte sich ein und steuerte auf die Straßenbahnhaltestelle zu.

»Ich glaube kaum, dass jetzt noch was fährt«, zweifelte Paul beim Blick auf seine Uhr, während Nina den Fahrplan studierte.

»Halb eins durch, du hast Recht. Die letzte Bahn ging vor zwanzig Minuten. Scheiß Kaff. Taxi oder Laufen?«

»Naja, Taxi sehe ich hier keines, und so kalt ist es ja noch nicht«, versuchte Paul die peinliche Gewissheit zu überspielen, dass er niemals genügend Geld für ein Taxi dabei gehabt hätte. »Ich bring dich heim, wenn es dir recht ist.«

Nina nickte und wandte sich zum Gehen. »Ok, allerdings könnte das für dich ein Umweg sein. Wo wohnst du eigentlich?«

»Reichsgasse 38, gleich bei Cicero, der Buchhandlung.«

»Das ist gut. Ich muss ins Holländische Viertel. Erzähl mal was von deiner WG?«, fragte Nina, während sie Paul am Ärmel in ihre Richtung zog.

»Hmm. Wir sind zu dritt. Marc, Levi und ich. Marc gehört das Haus, oder vielmehr seinen Großeltern. Doch seitdem die nach Marbella ausgewandert sind, kann er es nutzen.«

»Aber wieso macht der eine WG auf, wenn ihm das Haus gehört?«

»Marc ist Fotograf und hat sich Anfang des Jahres selbständig gemacht. Da kam ihm die Miete von uns gerade recht.«

»Fotograf? Cool.«

»Stimmt, aber ob ich das morgen auch noch cool finde, wenn er sich unsere Gartenbilder anschaut und alles besser weiß, glaube ich nicht.«

»Neidisch?«

»Nicht wirklich. Im Gegenteil, ihn kann ich sogar mal was zu meinem Studium fragen, anders als Levi, der als Informatiker mit meiner Kunst wenig anzufangen weiß.«

»Liegt’s an der Informatik oder deinen Arbeiten? Oder hat er allgemein nichts für Kunst übrig?«

»Doch schon, nur eben nicht viel für Grafik oder Fotografie. Er schreibt stattdessen für eine Lesebühne.«

»Und was?«

»Kurzgeschichten. Manchmal aber auch…«

»Ich war mal auf einem Konzert«, unterbrach ihn Nina. »Da hat einer Bilder zu Musik gemalt und der andere Texte vorgetragen. Total schräg. Herr Blum hieß das Duo, ich glaube Vater und Sohn.«

»Naja, so weit sind wir noch nicht«, versuchte sich Paul vergeblich zu erinnern, was er über Levi noch hatte sagen wollen.

»Ich fotografiere auch ganz gern«, fuhr Nina fort. »Allerdings bastele ich danach am PC oft solange an den Fotos herum, bis die aussehen wie abstrakte Gemälde.«

»Oder du fotografierst gleich moderne Kunst.«

»Mach dich nur lustig. Aber so ganz untalentiert bin ich nicht. Immerhin spiele ich auch in einer Theatergruppe mit.«

»Theater? So richtig mit Text und Kostüm oder nur als Statist?«

»Beides. Aber du wirst lachen, ich war sogar mal ein Baum in einem Weihnachtsmärchen für Kinder.«

Während Nina von ihren letzten Aufführungen erzählte, grübelte Paul, wie er sich später am besten verabschieden sollte. Kann ihr doch kaum am ersten Abend schon einen Kuss geben, dachte er aufgeregt und überhörte fast, dass die Theatercrew in Kürze mit Proben zu einem Kriminalstück beginnen würde.

»Und wo?«, beeilte er sich zu fragen.

»Im alten Stahlwerk hinterm Bahnhof haben wir eine kleine Bühne. Wieso, magst du mitspielen?«

»Nein danke, ich stehe nicht so gern im Mittelpunkt, aber zuschauen kann ich prima, wenn ihr Gäste bei den Proben duldet.«

»Ich frag mal«, antwortete Nina und schloss ihre Jacke.

»Kalt?«, erkundigte sich Paul besorgt und zog sie unmerklich ein Stück näher an sich heran. Sie hakte sich fester unter.

»Geht so, werde grad arg müde, und es scheint Herbst zu werden. Riechst du das auch?«

Paul roch in die Nacht und bemerkte nur den gewohnten Mix aus Abgasen und Abfällen, die aus den Drahtkörben quollen.

»Ja, er liegt in der Luft«, erwiderte er dennoch. Was lag ihm daran, Ninas Meinung zu sein? »Also ich könnte dann ja in ein oder zwei Monaten zuschauen kommen, wenn eure Texte sitzen«, knüpfte Paul an das vorherige Thema an, und Nina lachte.

»Nein, du kannst mich auch gern früher wiedersehen, wenn es dir darum geht. Zum Beispiel im Museum oder mal in deinem Kino.«

Paul hätte sich fast verschluckt. In seinem Kino? Klar, er könnte Nina in den neusten Streifen die Venusmuschel einladen und zur Abwechslung die Kondome selbst mitbringen. Das hatte ihn so überrascht, dass er vergaß, sich über Ninas Vorschlag zu freuen.

»Ich glaube, das Museumscafé ist keine schlechte Idee, besser als sich im Kino anzuschweigen.«

»Naja, man muss ja nicht immer nur reden«, flüsterte Nina mit einem Augenaufschlag, der Paul beim Gedanken an die spätere Verabschiedung verzweifeln ließ.

»In jedem Fall gebe ich dir mal meine Telefonnummer, nur für alle Fälle«, wagte Paul den Angriff nach vorn. Nina zückte ihr Mobiltelefon und tippe die ihr von Paul genannte Nummer ein, wählte und legte, als es bei Paul klingelte, wieder auf.

»So, da hast auch meine«, lächelte sie und zeigte mit der Hand auf einen über die Häuser hinausragenden Turm.

»Dort unterhalb des Sendemastes wohne ich, ungefähr noch zehn Minuten.«

»Ja, irgendwann ist auch der schönste Abend vorbei.«

Nina lächelte amüsiert. Komischer Typ, schüchtern und versucht dennoch Komplimente zu machen. Süß, aber ungefährlich, versuchte sie sich einzureden, während er wieder von seiner WG erzählte.

»Marc war letztens bei seinen Großeltern in Spanien. Sein Großvater war Botschafter und wollte zusammen mit seiner Frau nach deren Pensionierung nicht mehr nach Deutschland zurück. So verbringt Marc seine Zeit oft im Süden und sucht Motive für den Kalenderverlag, für den er manchmal arbeitet. Levi hat sich vor gut einem Monat von seiner Freundin getrennt. Übermorgen wird er mich zu einer Ferienübung an die Uni begleiten und Modell sitzen, das lenkt ihn ab, er bekommt ein paar Euro, und ein Haufen Mädels wird wissen wollen, wen ich da anschleppe«, plauderte Paul, während sie dem Turm mit den blinkenden Lichtern immer näher kamen.

Nina begann von ihrer Familie zu erzählen, ihrem Vater, der als Rechtsanwalt eine eigene Kanzlei führte und eher mit dieser als seiner Frau verheiratet war, die wiederum als ehemalige Lehrerin nach der Geburt der Kinder zuhause blieb.

»Du hast Geschwister?«, unterbrach sie Paul.

»Ja, einen älteren Bruder und eine Zwillingsschwester. Und selbst?«

»Keine. Ich bin ein verzogenes Einzelkind zweier Psychologen. Meine Kindheit war die reinste Therapie.«

»Ach, deshalb«, lachte Nina.

»Ich wäre auch gern ohne meine Geschwister aufgewachsen. Mit meiner Schwester habe ich mich nur gefetzt. Die ist vor Mitternacht und damit einen Tag früher als ich geboren und glaubt seitdem, mir auch sonst in allem voraus zu sein.«

»Und wie alt ist dein Bruder?«

»35 und hat schon Familie. Ich habe ihn daher nie wirklich kennen gelernt, denn als ich mir einen älteren Bruder gewünscht hätte, war der längst aus dem Haus. Sagenhaft, ich und Tante«, schüttelte Nina den Kopf.

»Da haben sich deine Eltern zwölf Jahre nach deinem Bruder noch mal Zwillinge angetan. Respekt.«

»Der Respekt gilt einzig und allein meiner Mutter. Mein Vater konnte sie damit ans Haus ketten und sich noch mehr hinter seiner Arbeit verstecken.«

»Und deine Mutter macht das mit?«

»Sicher nicht immer freiwillig. Doch was soll sie tun? Sich scheiden lassen? Ausgeschlossen bei dem Ehevertrag, den sie anlässlich des zwanzigsten Hochzeittages hat unterschreiben dürfen. Man ist ja nicht umsonst Anwalt«, höhnte Nina, und Paul war nahe daran, sie dafür in den Arm zu nehmen. So sah er verlegen auf seine Füße, suchte fahrig seine Hosentaschen und vergrub unsicher, wohin damit, seine Hände darin.

»Willst du darüber reden?«, fragte er schließlich, einer der Lieblingssätze seiner Mutter, eine Berufskrankheit.

»Nein, heute nicht mehr. Klingt auch alles schlimmer, als es ist. Wir haben uns arrangiert. Aber danke, gern ein anderes Mal, wenn es dich nicht langweilt.«

»Wieso langweilen? Du langweilst mich doch nicht und klar interessiert mich deine Familie. Die kann man sich nicht aussuchen, oder glaubst du, ich hätte freiwillig zwei Psychologen daheim?«

Zu Pauls Erleichterung lachte Nina leise auf.

»Dafür bekommst du irgendwann mal einen Kuss, aber ich bin kein Mädchen, das beim ersten Date gleich über die Stränge schlägt«, lächelte sie und wunderte sich, dass Paul übers ganze Gesicht strahlte. Ihm war ein Stein vom Herzen gefallen. Natürlich hätte er sich über einen Kuss gefreut. So aber wusste er wenigstens, wie der Abend enden würde, und dass er sich keine weiteren Sorgen um die richtige Verabschiedung machen musste. Sie will mich küssen, schoss es ihm wieder und wieder durch den Kopf, und plötzlich merkte er, wie gern er den Kuss erwidert hätte und wie sehr er sich auf das nächste Treffen freute.

»Keine Sache, ich denke, wie sehen uns wieder. Dann kannst du das gern nachholen.«

Nina war nicht entgangen, dass seine Stimme unmerklich zitterte. Sie war ganz zufrieden mit diesem Ergebnis, doch spürte sie, bei diesem Jungen die Dinge besser selbst in die Hand zu nehmen, zumindest am Anfang.

»Nächsten Donnerstag arbeite ich wieder, falls du Zeit hast.«

»Donnerstagabend kann ich leider nicht, da will mich Bones im Kino treffen, außer ich erreiche ihn morgen, um das zu verschieben«, bedauerte Paul.

»Mach dir keinen Stress, ich hatte gar nicht an den Abend gedacht. Aber ich habe um drei Uhr Pause und bummel sonst allein durch die Fußgängerzone.«

»Na dagegen weiß ich was, Fußgängerzonen lassen sich wunderbar zu zweit bebummeln.«

»Vielleicht erzählst du mir dann auch ein wenig von deinen Eltern, kann mich nicht früh genug mit den Folgen meiner Ausbildung beschäftigen. Übrigens wir sind da. Hier wohne ich, habe aber weder ein Aquarium noch eine Briefmarkensammlung, und Kaffee ist wohl auch keiner mehr im Haus. Vielleicht ein paar Hundehaare, aber das lohnt das Raufkommen nicht«, schloss Nina das Gespräch. Paul sah an dem schmalen Gebäude hoch. Es war einer der vielen schmucklosen Nachkriegsbauten, saniert und austauschbar zu den Häusern der Nachbarschaft.

»Schön und wo hier, unterm Dach?«, überspielte er seine plötzliche Verlegenheit. »Das nächste Mal habe ich Album, Fische im Glas und Kaffee dabei«, brachte er noch heraus, bevor ihm Nina einen sanften Kuss auf die Wange drückte und sich anschickte, die Tür aufzuschließen.

»Gute Nacht, du Schwerverbrecher«, gab sie ihm in Anspielung an seinen Auftritt im Henker mit auf den Heimweg und war, bevor er antworten konnte, im Hausflur verschwunden, schaltete das Licht an, schloss die Tür, und Paul fand sich allein auf der Straße wieder. Das machte ihm jedoch nichts aus. Im Gegenteil, sein Herz raste, und er schien zu schweben. Was für eine Frau, und sie hatte ihn geküsst. Naja, fast sozusagen, eine Idee von einem Kuss, ausbaufähig, aber doch schon mehr, als er zu wünschen gewagt hätte. Er schaute das Haus empor, bis das Flurlicht erlosch und es ihn zu frösteln begann. Da werden die Jungs Augen machen. Also Levi werde ich es nicht gleich auf die Nase binden, nachdem er gerade eine Trennung durch hat. Aber Marc wird staunen, ich und ne Freundin, mal ganz was Neues, dachte Paul, während er sich auf dem Heimweg machte.

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