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Leonie

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Den restlichen Tag verschlief sie, ebenso den nächsten Vormittag. Fast sogar die Verabredung mit Paul, der seinerseits voller Vorfreude Levi auf die Nerven ging, als beide sich am Donnertag auf den Weg zum Skizzenkurs an die Kunstakademie machten. Er hatte es nicht mehr ausgehalten und Levi im Anschluss an das Gespräch mit Alexander von Nina und dem vorangegangen Abend erzählt.

»Kannst du mir mal bitte sagen, warum sich Alexander mit Rebecca trifft und wieso die mir einen Abend vorher noch den Unsinn mit dem Selbstmord erzählt?«, versuchte Levi die fünfte Wiederholung von Pauls Erzählung von dem ach so lustigen Abend mit Nina zu beenden. Eigentlich wollte er das Thema nicht mehr ansprechen. Aber er sah angesichts Pauls endloser Fragen, wie er dieses und jenes von Ninas Äußerungen verstehen würde, keine andere Chance, diesen zum Schweigen zu bringen. »Und was soll das für ein Job sein, Rebecca und Bürohilfe, ich lache.«

Paul hielt überrascht inne.

»Kann dir doch egal sein. Hauptsache, sie lebt und du bist den Stress los, dich für deren Scheiß verantwortlich zu fühlen.«

Levi war es tatsächlich egal, doch irgendwie störte ihn diese plumpe Vertraulichkeit zwischen Rebecca und Alexander, der noch immer in der WG ein- und ausging und somit zum ständigen Quell der Informationen für sie werden könnte. Naiv genug wäre der, dachte Levi verstimmt.

Schweigend setzten sie ihren Weg fort, bis sie den Zeichensaal erreichten und Leonie beim Versuch, ihre Staffelei aufzustellen, antrafen.

»Hallo ihr zwei, was für ein Tag. Erst fiel der Bus aus, dann hatte meine Mutter den Autoschlüssel verlegt und schließlich war ich eine Stunde zu früh dran, weil ich mir die Zeiten falsch notiert hatte«, freute diese sich, Paul zu sehen und umarmte ihn ebenso herz– 54 – lich, wie sie Levis hingestreckte Hand schüttelte. Der musterte verlegen die Bühne in der Mitte des Raumes.

Paul bemerkte das und erklärte Leonie, dass Levi heute stillsitzen üben will, weil ihn sonst der öffentliche Dienst nach dem Studium nicht nimmt.

»Aber stand heute nicht Akt auf dem Programm?«, mühte sich Leonie angesichts Levis überraschten Blicks, ernst zu bleiben. Paul lachte.

»Keine Sorge, erst beim dritten Mal muss man sich ausziehen.«

Levi atmete hörbar aus und half Leonie, die Staffelei zu befestigen, nicht ohne ihr leise ein »sehr witzig« zugeraunt zu haben. Leonie studierte im gleichen Semester wie Paul. Auch traf man sie oft dort, wo Paul nicht alleine hingehen mochte.

Als weitere Kommilitonen und der Studienleiter eintrafen, hieß es für Levi, in der Mitte des Saales Platz zu nehmen. Trotz vorlesungsfreier Zeit gab es Übungsgruppen, die das nachholten, was in den dicht gedrängten Lehrplänen während des Semesters auf der Strecke blieb. Eine solche Übung war heute Akkordzeichnen, wie es Paul nannte. Es galt, innerhalb einer Minute eine bestimmte Pose des Modells anzufertigen, welche anschließend wechselte und abermals für 60 Sekunden Vorbild für die oft kläglichen Versuche war, die Realität aufs Papier zu bringen.

Der Studienleiter ging währenddessen herum, besah sich die Skizzen seiner Studenten und stoppte die Zeit. Ab und an gab er Tipps oder lobte einzelne Teilnehmer. Meist jedoch ging er schweigend vorüber und hinterließ bei den meisten das Gefühl nackt und unendlich klein vor einer riesigen Staffelei mit armseligem Kindergekrakel zu stehen.

Weniger ist mehr, hämmerte sich Paul den profanen Lehrsatz in den Kopf, als er versuchte, mit sparsamen Strichen die Kontur und Dynamik der jeweiligen Pose Levis einzufangen. Leonie stand mit der Zunge zwischen ihren Zähnen da und haderte mit dem Kohlestift, der bei leichtestem Druck splitterte.

»Wie der letzte Anfänger«, flüsterte sie Paul zu, der seinerseits darüber nachdachte, dass ein Architekturstudium so schlecht auch nicht gewesen wäre. Zumindest wäre Freihandzeichnen kein Schwerpunkt der Ausbildung.

Es war kalt im Raum und Levi froh, seine Sachen anbehalten zu dürfen, ebenso wie er nach 45 Minuten dankbar um das Ende der Übung war, wurden ihm Stillsitzen und Posieren langsam beschwerlich.

»Da lob ich mir doch ein Foto«, bewunderte er auf dem Weg zur Mensa frühere Königshäuser, wo sämtliche Familienmitglieder in Öl gemalt wurden und vermutlich wochenlang Modell sitzen mussten.

»Dafür hängen deren Bilder heute noch, dein Foto hingegen wäre spätestens nach 80 Jahren Geschichte«, belehrte ihn Leonie, während sie in ihrer Tasche nach dem Studentenausweis kramte und schließlich Paul bat, ihr ein Essen mitzubringen, da sie den Ausweis wohl vergessen habe.

Es war kurz nach ein Uhr, und Paul hatte fast noch zwei Stunden Zeit bis zu seiner Verabredung mit Nina. Es schien ihm endlos, dennoch konnte er sich nicht wirklich auf das Gespräch zwischen Leonie und Levi konzentrieren und spielte ununterbrochen mit seinem Mobiltelefon.

Leonie warf Levi einen fragenden Blick zu, als Paul nicht reagierte. Levi aber zuckte nur mit den Schultern und versprach Leonie, das Essen mitzubringen. Paul sollte Leonie selbst von Nina erzählen, das ging ihn nichts an.

Sie setzten sich an einen freien Ecktisch mit Blick auf den Campus und fanden Flyer für die im Oktober anstehende Erstsemesterparty vor.

»Gott, unsere ist schon wieder zwei Jahre her, könnt ihr euch noch erinnern?«, seufzte Leonie und stocherte in ihrem Gemüserisotto.

Paul konnte, antworte aber nicht, und Levi hatte nur Augen für den Nachbartisch, wo einige Erstsemestermädels im Anschluss an ihre Immatrikulation aufgeregt durcheinander redeten.

»Für mich war das auch alles furchtbar spannend. Abi rum und die Freundinnen weit weg als Au-Pair oder zum Studieren und ich hier allein an der Uni, gruselig«, erinnerte sich Leonie beim Anblick der Mädchen.

»Ich habe mich am Anfang erst einmal gründlich verlaufen und landete in irgendeinem Vorzimmer irgendeines Professors und bekam es gleich mit dessen Sekretärin zu tun, die mich wohl für den größten Schwachkopf an der Uni hielt, zumindest so behandelte«, erzählte Levi, Paul nickte und Leonie versuchte zu verstehen, worüber sich die Mädchen unterhielten.

»Damals kam ich mir so erwachsen vor. Studentin, wie cool das klang und wie weit weg das Abitur plötzlich war. Ich musste in den Sommerferien noch mal an unsere alte Schule, um mir die Zeugnisse beglaubigen zu lassen. Da hätte ich schwören können, dass Jahre seit meinem letzten Besuch dort vergangen wären. Guckt man sich jetzt die Erstsemester an, sind das richtig kleine Mädels«, grinste Leonie, und Levi dachte, dass sie ihm groß genug wären und freute sich plötzlich auf die Erstsemesterparty. Ihm war erneut seine Trennung von Rebecca bewusst geworden, doch diesmal genoss er das Gefühl, endlich wieder frei zu sein.

Da vibrierte das Handy von Paul, der, als er die erhaltene Kurzmitteilung gelesen hatte, seinen noch halbvollen Teller beiseite schob und Sekunden lang auf das Display starrte.

»Muss leider los, wir sehen uns«, verabschiedete er sich plötzlich, stand abrupt auf, drehte sich um und verließ ohne eine weitere Erklärung die Mensa, zwei ratlos blickende Freunde zurücklassend.

»Spinnt der heute etwas?«, wunderte sich Leonie, die Paul schon den ganzen Vormittag höchst seltsam fand.

»Man könnte meinen, er ist verliebt, doch das wüsste ich«, gab sie sich selbst eine Antwort.

»Keine Ahnung«, hielt sich Levi bedeckt und verschwieg Leonie, wie nah dran sie mit ihrer Vermutung war. Er wusste nicht, wieso er sich scheute, ihr von dieser ihm unbekannten Nina zu erzählen, doch irgendwie fand er weder den Platz noch den Zeitpunkt geeignet.

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