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Paul
ОглавлениеDas Unangenehmste für Paul war das Einsammeln der durchweichten Papiertaschentücher im Anschluss an die Vorstellung. Das Licht ging nie ganz an. In der Regel wirkte es eher wie eine Notbeleuchtung, um den wenigen, meist männlichen Gästen das Gefühl der Anonymität zu bewahren. Rasch huschten die Gestalten aus dem seitlichen Ausgang, während der Abspann lief. Paul musste meist nicht lange warten, bis der letzte Zuschauer gegangen war, um das Licht an und den Projektor auszuschalten. Hier war nicht nur im Zuschauerraum überwiegend Handarbeit gefragt. Heute galt es zusätzlich zwei benutzte Kondome zu entsorgen, ja manchmal kamen auch Paare. Es war nur ein Job, einer von vielen, Filmvorführer, Kartenabreißer und Putzkraft in einem Pornokino und das seit sechs Monaten. Paul war zweiundzwanzig. Eigentlich wollte er nach dem Abitur noch ein wenig die Welt bereisen, Erfahrungen sammeln, Leute treffen, den Ernst im Leben, wie ihn seine Eltern nannten, eine Weile vor sich her schieben. Doch dies wollte finanziert sein, daher der Job im Pornokino. Das allerdings blieb sein einziges Abenteuer, aber die Arbeit an sich war leicht. Zweimal die Woche von 21 bis 1 Uhr drei Vorstellungen. Selten kamen mehr als zehn Gäste. Das genügte zum Überleben des Kinos. Bones und Bernd, die Betreiber des Kinos, hatten noch eines in der Vorstadt und ein Lokal, an dessen Bar Paul gelegentlich als Keeper aushalf.
Paul war sein eigener Herr im Kino, verkaufte Karten, Knabberzeug, Tempos und Getränke. Meist gingen die ersten nach wenigen Minuten wieder, die Entspannung war erreicht. Es war ein Sammelsurium der näheren Umgebung, selten Frauen, dann aber meist in Begleitung. Ab und zu sah er sich einen der Filme durch den Projektionsspalt an und konnte nicht verstehen, was an Geschlechtsteilen von der Größe eines Kühlschrankes erregend sein sollte. Doch Hauptsache, die Kunden waren zufrieden, zumindest zeugten die verklebten Papiertaschentücher in den Auffangkörben der Sitzplätze davon. Das Stöhnen der Hauptakteure auf der Leinwand übertönte das erleichterte Aufatmen manches Gastes, und die rötlich schimmernde Beleuchtung nach Abschluss des Filmes zeigte Paul die Pause an. Er wartete das Auslaufen der Filmrolle ab, nahm diese vom Projektor und legte die Zweitrolle ein. Dann ging er durch die Kinoreihen, entsorgte die Hinterlassenschaften der Gäste und besetzte die Kasse. Die nächste Runde begann. In der Regel standen dort schon zwei bis drei Stammgäste und warteten. Die meisten Besucher kamen jedoch einzeln und das kurz vor Vorstellungsbeginn. Oft sahen sie Paul beim Entgegennehmen der Karte nicht an, sondern eilten gesenkten Blickes in den Kinosaal, um in dessen Schummrigkeit unterzutauchen. Gelegentlich kamen noch einige Nachzügler, so dass Paul dann erst kurz vor Filmstart schließen konnte, was immer ein wenig Eile bedeutet, wenn er pünktlich starten wollte. Heute waren es acht zahlende Gäste, und heute musste er sich beeilen.
Paul hatte im letzten Sommer die Schule beendet und wartete. Wartete auf eine Idee, was kommen wird, was er im Anschluss tun sollte. Viele seiner ehemaligen Mitschüler hatten sich in einen Auslandsaufenthalt, zur Bundeswehr oder zum Studieren verabschiedet. Manche arbeiteten wie er. Im Pornogeschäft war außer ihm vermutlich keiner.
So saß er hinter seinem Projektor und hörte sich uninteressiert den konstruierten Dialog zweier an einer Bushaltestelle Stehender an, bevor es zum obligatorischen Geschlechtsakt kam. Wer nur dachte sich diese Handlungen aus, und wo blieb der Bus, um ihn vom Anblick zweier fickender Riesen zu erlösen? Er dachte an Pia.
Vor einem Jahr hatte er sie das letzte Mal gesehen. Es war eine Woche vor ihrem Geburtstag. Paul hatte lange nach dem passenden Geschenk gesucht, und sie kannte noch nicht einmal seinen Namen. Ihn trieb der Optimismus seiner Jugend, den er später nie wieder so stark wie in diesen Tagen spürte. Es waren Konzertkarten. Nicht dass er sich sehr für Musik interessierte, doch in einem abgedunkelten Raum mit hunderten sich aneinander drängender Leiber, einem Ort ungebremster Lebensfreude, Energie und uniform dem Rhythmus unterworfener Menschen hoffte er sich seinem Ziel näher als durch all die zufälligen Begegnungen, deren Organisation ihn viel Zeit und Einfaltsreichtum kosteten. Es galt ihr nahe zu sein, ohne sie unnötig auf sich aufmerksam zu machen. Er wollte nicht bedrängen, sondern liebte aus der Ferne, unerfüllt aber in der Gewissheit tiefer Gefühle. Später würde er einmal sagen, dass die wahre Liebe die unerfüllte sei, denn sie bliebe stets von Realitäten verschont.
Seine Realität hieß Pia, ein Blatt im Wind. Er aber wollte der Sturm sein, der sie aus der Menge aller Blätter heraushebt, sich ihr offenbaren bei 120 Dezibel und Bier aus Plastikbechern. Würde sie mitkommen, mit ihm auf ein Konzert gehen? Sie kannten sich flüchtig, ein gemeinsamer Freund hatte sie einander noch nicht vorgestellt, Paul aber auf ihre Geburtstagsfeier in acht Tagen geladen. Acht Tage der Ewigkeit, jeder ein ganzes Leben, voller Bangen, Entsagung, Enttäuschung.
Es war ungefähr ein Uhr Nachts in einem der Clubs seiner Heimatstadt, als sie sich das erste Mal über den Weg liefen. Pia saß in einer Ecke, und Paul fühlte ihren Blick im Rücken, als er vorüberging. Ein Blick zurück, und er begann die Stunden bis zu einer nächsten, damals noch zufälligen Begegnung zu zählen. Doch mit seinem Interesse wuchs auch sein Erfindungsreichtum, dem Zufall immer öfter auf die Sprünge zu helfen. Es war eine kleine Stadt, in der man um die wenigen Orte wusste, an denen man sich traf, wenn es Frühling wurde. Sie musste ihn wahrgenommen haben. Das Konzert bot ihm die Möglichkeit, ohne viele Worte ein gemeinsames Thema zu haben. War es ein Geschenk, wenn er sich neben der Karte als Begleitung anbot? Er hatte nicht viel Erfahrung damit. Fast schien es ihm, dass all sein Grübeln nur heißen konnte, sie interessierte sich nicht für ihn. Hätte sie anders nicht bereits auf seine Blicke, sein Hoffen, seine linkische Nähe reagieren müssen? Oder musste noch immer der Mann den ersten Schritt tun, sich dem offenen Messer stellen, das ein Nein von ihr ihm ins Herz gerammt hätte? Paul glaubte nicht an die Liebe auf den ersten Blick. Sie mochte nur oft genug zu ihm hinschauen, irgendwann wird sie erkennen, dass sie zu ihm gehörte. Soweit die Fantasie.
Die Wirklichkeit überholte Paul. Die Geburtstagsfeier wurde abgesagt, das Konzert besuchte er mit irgendeinem Freund, und Pia verzog im Herbst zum Studieren ans andere Ende der Welt, in einen 250 km von Paul entfernten Ort. Das Gefühlschaos ging vorüber, doch Narben blieben. In seinem Film hätte er die Zuschauer nicht um das Happy End betrogen. So dachte Paul über eine Karriere als Drehbuchautor nach. Nachdem er seit Jahren fast jeden Kinofilm sah, den die Traumfabrik über seiner Stadt ausschüttete, wusste er um den Mangel an Tiefe, Emotion und Fantasie. Er vermisste Spannung und Unterhaltung, Humor und Leidenschaft. Er hasste die Filme, die er sich allwöchentlich ansah, nur um nicht vor seinem Telefon zu sitzen, wissend, dass es nicht klingeln würde. Und er wusste, dass er es besser konnte. Nächtelang grübelte er über einer Idee, mit der er sich und der Welt beweisen konnte, dass mehr als ein schüchterner Einzelgänger in ihm steckte. Das Drehbuch wurde nie fertig, der Film in seinem Kopf nie gedreht, doch Paul hatte sein Refugium gefunden. Er begann Kunst zu studieren.
Die erste Hürde begann mit der Erstellung der für die Einschreibung erforderlichen Mappe. Paul hatte keine Ahnung, was die Universität von ihm erwartete, Skizzen, Naturstudien, Bewegung und Akte, Farbkompositionen und Materialstudien. In ihm gärten Ideen von Abstraktion, Kontrasten und Provokation. Es erforderte drei Anläufe, bis eine Jury ausgerechnet im 300 km entfernten Gottesacker so viel Mut bewies, ihm eine Chance zu geben. Zwar unterblieb der gefürchtete Hinweis nicht, man suche keinen Künstler, sondern eine geeignete Basis fachlicher Ausbildung, letztlich aber hielt er die Immatrikulationsurkunde in den Händen. Er war angekommen, ein Kreativer in den Hallen der Kunst, in kalten, seelenlosen Räumen, die sich nur durch die fehlenden Gitter vor den Fenstern von psychiatrischen Anstalten unterschieden. Die Selbstinszenierung der ihn ausbildenden Lehrkräfte verstärkte Pauls Eindruck, dass in dieser Anstalt die Insassen das Sagen hatten. Die ersten Monate waren kräftezehrend. Es misslang ihm jeder Versuch, aufs erste Mal die in ihn gesteckten Erwartungen dieser Insassen zu erfüllen. Er war meilenweit davon entfernt, sich in den Versuchen, ein angepasster Student zu sein, wieder zu finden. Es war eine Tragik in Gelb, ein Martyrium in Blau, ein Waterloo in Rot. Grün kam nicht vor, und schwarz war die Hoffnung, je seinen Bildern eine Seele einzuhauchen.