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6. Kapitel

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Es tat richtig gut, aus dem Haus zu kommen. Ich atmete tief durch die Nase ein und mit einem lauten »Haaah!« durch den Mund aus.

Unser Haus liegt ganz am Ende der Siedlung im alten Teil. Hier stehen etwa zehn winzige Reihenhäuser und gleich daneben beginnen die Neubauten. Hinter unserem Gartenzaun liegt bloß Wald. Soweit ich weiß, hat der Wald nicht mal einen Namen. Er heißt immer bloß »der Wald« oder »das Waldstück hinter dem Golfplatz«.

Wäre echt cool, wenn wir ein kleines Tor im Zaun hätten, durch das man direkt in den Wald gehen könnte, aber leider ist es nicht so. Unsere trostlose Wiese endet einfach an einem Holzzaun.

Links von unserem Grundstück liegt eine Gasse, in der es nach Katzenpisse stinkt und sich das Gerümpel türmt. Eine gebrauchte Matratze steht dort herum, eine verrostete Waschmaschine und eine Mülltüte, aus der alte Klamotten quellen. Dad meint, die Kommune wäre dafür verantwortlich, den Müll zu entsorgen, aber die haben offensichtlich kein Interesse daran. Auf der anderen Seite der Gerümpel-Gasse wohnen Susi und Prudi, zwei Damen mit kurzem grauem Haar, die Mum bereits kennengelernt hat und die sie »sehr nett« findet, wobei sie noch hinzufügte: »Eine davon ist ein Doktor.« (Ich dachte immer, Ärzte verdienen gut, warum die hier wohnen, kapiere ich nicht.)

Ihr Grundstück wurde in einen schönen Garten mit gepflasterten Wegen verwandelt und sie haben fünf Katzen aus dem Tierheim. (Dad schnaubte, als Mum es uns erzählte. »Trau keinem, der mehr als zwei Katzen hat«, sagte er, was ich ein wenig gemein fand, denn ich mag Katzen.)

Rechts von unserem Grundstück liegt ein weiterer Garten, ein richtiger mit Rasen, der von unserem nur durch einen klapprigen Zaun getrennt ist.

An dem Morgen, an dem alles begann, stand ich mit dem Rücken zu ebendiesem Zaun und betrachtete die alten Häuser aus dreckigen Ziegelsteinen. Die Hälfte der Häuser sieht aus, als wären sie nicht einmal bewohnt, manche haben kaputte Fensterscheiben. Kein Wunder, dass wir hier so billig zur Miete wohnen. Mum und Dad behaupten, es sei nur vorübergehend.

»Hallo, Aidan!«

Überrascht sah ich mich um, konnte aber niemanden entdecken. Dann ertönte ein Lachen, ein helles, fröhliches Gebell. Ich drehte mich einmal um die eigene Achse, um herauszufinden, woher die Stimme kam.

»Hier!«

»Wo?«, fragte ich. Und dann: »Au!«, als mich etwas Hartes im Gesicht traf. Kurz darauf sauste etwas an meiner Nase vorbei.

»He! Hör auf«, sagte ich und wieder ertönte diese Terrier-Lache. Dann sah ich ihn, den gelben Kuli, der durch ein Loch im Zaun lugte. Jemand benutzte den Schaft als Blasrohr, um mich mit Papierkugeln zu beschießen. Und dieser Jemand schoss gut.

Ich ging zum Zaun, beugte mich hinunter und linste durch das Astloch. Sofort verspürte ich einen heftigen Tritt in den Hintern. Als ich herumfuhr, stand dort ein winziges Mädchen, grinste frech und gackerte. Ich kannte sie aus der Schule, wusste aber nicht, wie sie hieß. Wir hatten keinen gemeinsamen Unterricht.

»W-wo kommst du denn plötzlich her?« Es war, als hätte sie sich aus dem Nichts vor mir materialisiert.

»Ich bin Roxy Minto von nebenan. Und du bist Aidan!«

»Ähm … weiß ich. Aber woher weißt du das?«

Sie schnaubte verächtlich, um zu zeigen, für wie dämlich sie meine Frage hielt. »Was glaubst du denn? Meine Mum hat mit deiner gesprochen. Ich habe gesehen, wie die Umzugsleute eure Sachen reingetragen haben. Du hast ein rotes Fahrrad und einen weißen Schreibtisch in deinem Zimmer. Dreh dich mal um.«

»Warum?«

»Dreh dich einfach um.« Sie sagte es mit solcher Überzeugung, dass ich ihr gehorchte, obwohl ich einen weiteren Tritt in den Hintern befürchtete.

»Woher weißt du, dass das Fahrrad und der Schreibtisch mir gehören?«, fragte ich, doch es kam keine Antwort. Ich drehte mich wieder um … und Roxy war nicht mehr da. Einfach verschwunden.

»Roxy?« Eine Latte im Zaun klappte nach oben. Roxy steckte kichernd den Kopf durch das Loch. »Hier lang!«

Ich passte mit Ach und Krach durch. (Roxy war so winzig, dass sie mühelos hindurchschlüpfte.) Und dann stand ich in ihrem verwilderten Garten, mit kümmerlichen Büschen, Blumen und Unkraut und einer alten Plastikrutsche.

Roxy stiefelte über den ungemähten Rasen auf einen riesigen Busch zu, der am Ende des Gartens über den Zaun wucherte und dessen Ausläufer sich an einem Haselnussstrauch hochrankten. Sie schob einen Zweig beiseite und verschwand im Busch. Kurz darauf hörte ich ihre Stimme hinterm Zaun.

»Kommst du oder hast du Angst?«

Ich schob den Zweig beiseite. Verborgen im Busch befand sich ein Loch im Zaun, dahinter lag ein Pfad und dann kam der Wald. Vom Garten her nicht einsehbar stand am Zaun ein Container, so ein Fertigteil, wie man es von Baustellen kennt.

Roxy lehnte in der Tür. »Willkommen in meiner Garage!«, verkündete sie mit ihrer Quietschstimme. Ihr war anzumerken, wie stolz sie war. Innen griff sie nach einem Schalter, und ein Leuchtschild, das vom Dach hing, erwachte flackernd zum Leben. GARAGE war dort in pinken Buchstaben zu lesen, nur dass die ersten drei nicht mehr funktionierten, also stand dort nur AGE, aber ich muss zugeben, dass es trotzdem ziemlich cool war.

Im Container standen ein ramponierter Schreibtisch, ein wackliger Drehstuhl, zwei Holzhocker und ein winziger Kühlschrank in Form einer Bierdose. Auf dem Boden lag ein Teppich, die Glühbirne war mit einem Lampenschirm versehen und an den Fenstern hingen sogar Gardinen. Aus einem Riss im Kunststoffbezug eines sehr abgewetzten Sofas quoll gelber Schaumstoff. Ich lachte.

»Was ist denn so lustig? Gefällt es dir nicht?«

Insgeheim war ich schwer beeindruckt, aber das wollte ich nicht zugeben.

»Nicht übel«, meinte ich. »Wo … wo hast du denn das ganze Zeug her?«

Ich merkte, dass sie von meiner Reaktion enttäuscht war, und es tat mir sofort leid. »Das meiste habe ich vom Müll«, sagte sie. »Die Leute schmeißen so viel weg. Wiederverwertung, Recycling, bla, bla. Das Neonschild ist das Pièce de résistance!« Roxy sprach mit übertrieben französischem Akzent und wedelte theatralisch mit der Hand.

»Was hier alles reingeht!«, sagte ich, um meine Bemerkung von eben wettzumachen.

»Du meinst, es steckt mehr drin, als man von außen ahnt? Das sagt man auch über mich!« Roxy sprang auf einen Stuhl und öffnete den Kühlschrank. »Lust auf ein Bier?«

»Ich … ähm …«

»Hey, du glaubst mir doch nicht etwa jedes Wort? Ich mache doch nur Spaß.« Damit warf sie mir ein Trinkpäckchen mit Strohhalm zu. »Setz dich und leg mal die Beine hoch. Mi casa es su casa!«

Wir saßen eine Weile und schlürften unseren Saft. Auch wenn ich Roxy erst etwa sechs Minuten kannte, war ich überzeugt, dass ich noch nie jemandem wie ihr begegnet war.

Als ich meinte, sie wäre winzig, habe ich nicht übertrieben. Sie war so klein, dass ich sie vom Alter her auf sechs schätzen würde, nur ihrem Verhalten nach war sie älter, eher sechzehn. Ihre braune Haut glänzte wie frisch poliertes Holz, die Sommersprossen waren noch eine Spur dunkler und ihr krauses Haar war wie bei einem Jungen einfach kurz abgeschnitten. Aus ihren Klamotten ließ sich auch nichts ablesen: Shorts, Flip-Flops, fleckiges weißes T-Shirt, Jeansjacke. So liefen im Sommer alle rum. Nur dass Roxy mindestens elf sein musste, denn sie ging ja auf die Percy Academy.

Am auffälligsten fand ich aber ihr Lächeln. Manche Leute sehen von Natur aus griesgrämig aus. Dabei haben sie gar keine schlechte Laune, sondern vielleicht gerade einfach nichts zu lachen. Bei Dad ist das so. Ständig sagt jemand zu ihm: »Du ziehst ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter!«

Jedenfalls schien Roxy das genaue Gegenteil davon zu sein. Ihr Mund war zu einer Art Dauerlächeln verzogen, als würde sie die ganze Zeit in sich hineinlachen.

Roxy merkte, dass ich sie ansah. »Was glotzt du? Hast du noch nie einen feinen Pinkel gesehen?« Auf einmal klang sie wie einer aus London. Die Überraschung stand mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn sie lachte. »Das ist aus Oliver

Ich muss ziemlich verständnislos geguckt haben.

»Oliver! Kennst du das Musical etwa nicht? Oliver Twist von Charles Dickens. Als Oliver dem Artful Dodger begegnet, sagt der das zu ihm. Wir proben das Stück in der Theater-AG. Ich spiele den Dodger. Ich habe das Kostüm und alles.« Sie deutete auf einen langen Samtmantel und einen Zylinder, die beide an einem Haken an der Wand hingen.

Ah, jetzt kapierte ich. »Wie alt bist du, Roxy?«

Wieder änderte sie die Stimme, diesmal mimte sie eine vornehme alte Dame. »Junger Mann, wie können Sie es wagen, eine Dame nach ihrem Alter zu fragen!« Meine neue Nachbarin war offenbar die geborene Schauspielerin. »Genauso alt wie du. Vier Wochen älter!«

»Du weißt, wann ich Geburtstag habe?«

Sie sprang vom Stuhl und öffnete die Tür vom Container.

»Es gibt so einiges, das ich über dich weiß, Aidan Henry Linklater. Und über deine Schwester Liberty, geboren am 5. Februar. Wirf das Trinkpäckchen in den Recyclingbehälter und komm. Ich will dir was zeigen.«

Ich folgte ihr über einen kaum erkennbaren Pfad in den Wald. Hätte ich doch nur da schon gewusst, was passieren würde, dann hätte ich mir vielleicht eine Menge Ärger ersparen können.

Aber dann wäre ich auch nie Alfie Monk begegnet.

Der 1000-jährige Junge

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