Читать книгу Der 1000-jährige Junge - Ross Welford - Страница 16

10. Kapitel

Оглавление

Als er mit seiner Frau Hilda und seinem kleinen Kind auf dem hölzernen Pier in Ribe an der dänischen Westküste stand, war Einar nicht wiederzuerkennen. Und genau das wollte er auch.

Er hatte sich den Bart abrasiert, das Haar geschnitten und sich wie ein Handwerker mit mittlerem Auskommen gekleidet. Nicht zu reich, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, nicht so arm, dass man fürchtete, er könne die Überfahrt nach Bernizien in Britannien nicht bezahlen.

In Ribe kannte ihn zwar keiner, dennoch ging er auf Nummer sicher und wir lagerten außerhalb der Stadt. Da war nervös, sagte Mam. Er fühlte sich verfolgt. Sie war inzwischen auch eine Nimmertote, der blutige Prozess hatte in der Nacht ihrer Hochzeit stattgefunden. Zusammen würden sie mit ihrem Sohn in dem neuen Land ewig leben.

Wenn sie es bis dahin schafften.

Einar hatte eine Überfahrt auf einem Frachtschiff gelöst, das direkt über die Nordsee segelte. Es würde einmal nördlich vom Hadrianswall halten, um Fracht zu entladen und neue an Bord zu nehmen, dann sollte es weiter die Küste hinuntersegeln bis zur Mündung der Tine.

Der Kapitän hatte gesagt, es würde je nach Wind vier, vielleicht fünf Tage dauern, bis sie ablegten, aber der Wind spielte nicht mit. Frachtschiffe verließen sich auf Segel, nicht auf Ruder wie die Langschiffe. Wenn der Wind also aus Westen kam, wie meist, war es eine schwere Überfahrt ins neue Land.

Nach einer Woche drehte der Wind endlich und binnen eines Tages glitt die alte, ramponierte Knorr, das Frachtschiff der Wikinger, mit seinen schmutzigen, geflickten Segeln und den alten geteerten Tauen aus dem Hafen von Ribe.

Da bestieg das Schiff getrennt von Ma und mir. Die ganze Reise über sollten wir so tun, als gäbe es keine Verbindung zwischen uns. Und er gab Mam die Perlen, weil sie bei ihr sicherer wären, falls ihn jemand erkannte. »Bis wir an Land gehen«, hatte Mam mir mit ernster Miene eingebläut, »sprichst du kein Wort mit deinem Vater.«

Offenbar war ich völlig verwundert, tat aber, wie mir geheißen. Ich bin immer ein guter, gehorsamer Junge gewesen, wie Mam sagte.

Gepäck hatten wir nur wenig dabei. Jeder hatte einen Beutel aus Hanf, und ich hatte noch einen Weidenkorb mit einer jungen Katze, die ich Biffa genannt hatte. Es war kein Name, nicht mal ein Wort. Mir gefiel wohl einfach der Klang.

Auf dem Boot gab es keine Privatsphäre. Beim Pinkeln oder bei größeren Geschäften musste man ins Meer machen, während das Schiff in den wilden Wellen wogte. Die Mannschaft war nicht zimperlich, die ließen einfach die Hosen runter und hängten ihren Hintern über die Reling.

Und so haben wir wohl auch Da verloren, meinte Mam. Niemand sah, wie er über Bord ging. Der Wind hatte aufgefrischt, der Kapitän hatte das Segel eingeholt und die lange Knorr stieg und fiel mit der Dünung. Während das Boot in den Schaumkronen auf und ab hüpfte, machte sich Da zum hinteren Teil des Schiffs auf, wo sie alle hingingen. Dort war es ein wenig abgeschiedener, denn als Sichtschutz gab es einen Stapel Fässer, der mit einem Seil gesichert war und an dem man sich festhalten konnte.

Danach hat ihn keiner mehr gesehen.

Mam bemerkte es als Erste. Alle standen zusammengedrängt, um nicht nass zu werden, als sie sagte: »Wo ist Einar?«

Als klar wurde, was geschehen war, wendete der Kapitän das Schiff im Sturm und kreuzte hin und her, fuhr sogar noch weiter zurück, als wir an jenem Tag gekommen waren, falls Da von der Strömung davongetragen worden war. Keine Spur von ihm. Selbst wenn er gerufen hatte, als er über Bord ging, hätte man ihn wegen der Wellen, des Windes und des Knarrens des alten Kahns nicht gehört.

Was für ein Abgang. Auch wenn ich mich kaum noch an ihn erinnere und es schon Jahrhunderte her ist, macht es mich noch traurig, und ich muss immer wieder daran denken, trotz all der anderen traurigen und furchtbaren Dinge, die ich erlebt habe.

»Das Schlimmste war«, sagte Mam, »dass ich nicht trauern durfte. Ich musste so tun, als wäre ich nur so traurig wie jemand, der ihm gerade erst begegnet war. Und dass du bloß weintest, weil du noch so klein warst und der Tod dich allgemein mitnahm, nicht etwa, weil dein Vater gerade verschwunden war.«

»Aber warum?«, fragte ich dann immer.

»Weil wir die abschütteln wollten, die vielleicht hinter den Perlen her waren. Und ich bin bei dem Plan geblieben. Ich weiß bis heute nicht, ob jemand deinen Vater über Bord gestoßen hat. Auf dem Schiff gab es noch einen weiteren Passagier, einen böse aussehenden Teufel mit buschigem schwarzem Vollbart. Er und dein Vater hatten an diesem Tag gestritten. Einar traute ihm nicht, das weiß ich. Als du vor Kälte gewimmert hast, meinte der Bärtige: ›Stopf dem Blag das Maul!‹ Und als du weintest, weil Einar über Bord gegangen war, hat er gedroht, dich hinterherzuwerfen.«

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sein Gesicht dicht vor mir und »Holl munnen!« knurren. »Halt den Mund!« Bei der Erinnerung fröstelt es mich noch heute.

Und so segelten wir sechs Tage später durchnässt, halb erfroren und nach Schafskäse, Seehundfellen und Schiffsteer stinkend die Tine hinauf und gingen am langen Holzpier bei den Fischerhütten von Bord.

Meine Mutter hatte Dänemark als junge Ehefrau verlassen und kam nun in Teenmooth als Witwe mit einem kleinen vaterlosen Kind an.

Meine Wenigkeit.

Dann purzelte über tausend Jahre später ein winziges junges Mädchen bei uns in den Hof und stieß sich den Kopf. Und von dem Tag an änderte sich alles.

Der 1000-jährige Junge

Подняться наверх