Читать книгу Der 1000-jährige Junge - Ross Welford - Страница 19

13. Kapitel

Оглавление

Zunächst hatte ich keine Ahnung, was da lief. Es waren bloß Geräusche wie Rascheln und Knacken zu hören und verschwommenes Graugrün zu sehen, während sich die Kamera durch … irgendwas bewegte.

Blätter. Unterholz. Gebüsch. Und dann ertönte glasklar eine Stimme, und zwar meine Stimme: »So was Flaches mit grünen Flecken?«

Dann Roxys Stimme: »Genau. Das ist ein Dach!«

»Halt sofort den Film an!«, sagte ich zu Roxy, und sie beugte sich vor, um die Leertaste zu drücken.

»Du hast das alles gefilmt?«

Sie sagte nichts, nickte nur grinsend.

»Aber … wie? Du hattest doch keine Kamera.«

Mit der linken Hand zerrte Roxy an ihrer Jeansjacke und hielt sie mir hin. Bei genauerem Betrachten entdeckte ich eine winzige Glaslinse, die in einem Messingknopf eingelassen war. Als Roxy die Jeansjacke aufschlug, kam ein schwarzes Kabel zum Vorschein, das zu einer Innentasche und einem silbernen Gehäuse führte.

»Ist das eine Kamera?«

»Ja. Eine Überwachungskamera, 720p HD-Auflösung, Videoaufzeichnung mit Ton.«

Ich nickte verständig, als wüsste ich, wovon zum Teufel sie sprach. »Oh, wow«, setzte ich hinzu. Es schien zu funktionieren, denn sie geriet regelrecht ins Schwärmen.

»Ja und das Beste daran ist, dass die Kamera mit 16,4 Mbits aufnimmt und nicht mit MJpeg-4, sodass man …«, sie hielt inne und sah mich prüfend an.

Ich setzte das Gesicht auf, das ich immer mache, wenn ich in der Schule nicht aufgepasst habe und der Lehrer es nicht merken soll. (Unser Mathelehrer Mr Reid kennt das Gesicht ziemlich gut.)

»Du hast keinen Schimmer, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. »Hast du den Sturz auch drauf?«

Sie nickte zerstreut und drückte wieder auf PLAY.

Es war seltsam, noch einmal all das zu sehen, was sich erst ein paar Stunden zuvor ereignet hatte. Roxy spulte vor und übersprang den Teil, wo wir bloß durch den Wald streiften, bis kurz vor den Moment, als sie im Hof der Hexe landete.

(Habt ihr’s gemerkt? Jetzt fange ich auch schon damit an. Die Frau ist keine Hexe!)

Roxy lag im hohen Gras und man sah auf dem Film nur ein Stück vom Erdboden.

»Runter mit dir! Sonst sieht sie dich noch.« Das war Roxy.

»Was? Und dann verwandelt sie mich in eine Kröte? Das riskiere ich.«

Eine Art Handgemenge war zu hören, dann rollte Roxy den Hang hinunter und traf mit einem heftigen Rums unten auf.

»Au!«, rief ich. Das klang nach einem schmerzhaften Sturz.

Sehen konnte man so gut wie nichts, nur verschwommene Bewegungen, bis das Bild wieder stabil wurde und größtenteils Himmel zeigte, als Roxy bewusstlos auf dem Rücken lag.

»Das muss wehgetan haben«, sagte ich.

»Wie Hölle«, antwortete Roxy. »Aber erst, als ich wieder zu mir gekommen bin.«

Auf dem Video waren Schritte zu vernehmen und dann das, was ich Feigling oben von der Böschung aus gehört hatte.

Die seltsamen Worte. Erst die Frau.

»Al-vuh. Al-vuh! Kuma!«

So klang es zumindest. Und dann folgte eine Menge unverständliches Zeug. Ich hielt die Luft an, als das Gesicht der Frau den Monitor ausfüllte. Die Frau beugte sich über Roxy und die winzige Kamera fing alles ein.

Roxy stoppte den Film. »Und da ist sie!« Aus Roxys Mund klang es, als kündigte sie eine Berühmtheit auf einem roten Teppich an.

Wir blickten gebannt auf den Bildschirm.

Wie alt mochte die Frau sein? Ehrlich gesagt, kann ich das Alter von Erwachsenen nicht gut schätzen. Für mich sehen alle über dreißig gleich aus, bis sie so sechzig sind. Dann bekommen sie Falten und weißes Haar wie Gran und Grandpa Linklater.

Also diese Frau konnte irgendwas über dreißig sein. Auf der Stirn und um die Augen hatte sie zwar Falten, doch das mochte auch an ihrem besorgten Gesichtsausdruck liegen. Ihr Haar war unter einem Schal verborgen, aber ein paar blonde Strähnen schauten hervor. Ihre Wangen glänzten hellrot wie Pink-Lady-Äpfel.

Roxy ließ den Film weiterlaufen. Die Frau rückte ein wenig ab, bewegte den Kopf hin und her, als würde sie das Ausmaß der Verletzungen abschätzen. Einst mochte die Frau mal sehr hübsch gewesen sein, doch als sie den Mund aufmachte, fehlten oben und unten Zähne, der Rest war verfärbt und kaputt.

Dann nahm sie die Sonnenbrille ab und ich sah ihre Augen: wasserblau mit feucht-rosa Rändern und blassen Wimpern.

»Hat schon mal jemand so müde ausgesehen wie die?«, fragte ich Roxy. »Als könnte sie ewig schlafen.«

Auf dem Bildschirm war wieder Himmel zu sehen und es folgte eine Unterhaltung in der fremdartigen Sprache. Für mich klang es wie: »In-ann bolld.« Das wiederholte die Frau zweimal.

»Da haben sie mich aufgehoben«, sagte Roxy. Eine Mauer tauchte auf, dann wurde es dunkler, als sie ins Haus gingen. Das Bild kam wieder zur Ruhe und man sah so was wie eine Decke und eine Hängelampe.

»Hallo? Hallo?« Nun erklang eine andere Stimme, die des Jungen. »Hörst du mich? Hallo? Bist du verletzt?« Ein leises Klatschen war zu vernehmen. Es kam wohl daher, dass jemand Roxy sanft tätschelte, um sie aufzuwecken. Schließlich erklang wieder die Frauenstimme, jemand schnappte nach Luft und stöhnte matt.

Der Junge sagte etwas zu der Frau und dann hörte man Husten und wieder ein Stöhnen.

»Das bin ich«, sagte Roxy. »Ich komme gerade zu mir und versuche aufzustehen.«

Und tatsächlich wackelte das Bild kurz, als Roxy sich aufsetzen wollte, doch dann sah man wieder bloß die Decke, und die Frau sagte: »Nein, Hinny. Leg dich mal wieder hin. Hast dir ordentlich den Kopf gestoßen. Ruh dich aus. Nicht bewegen. Schhh.«

Die Stimme war sanft und beruhigend. Der Dialekt klang nach Geordie, wie man ihn in Nordengland in der Region um Newcastle spricht. Aber nicht nur, dazu kam noch ein Akzent. Kristina Nilsen aus meiner alten Schule hat auch so gesprochen. Sie kommt aus Norwegen und hat einen Geordie-Dialekt.

So oder so war es nicht die krächzende Stimme einer Hexe, aber das sagte ich Roxy nicht.

Roxy spulte noch ein wenig vor.

»Da liege ich einfach nur so da und die unterhalten sich in ihrer Sprache.«

Auf dem Bildschirm war kurz eine Schüssel zu sehen. Roxy sagte: »Mit dem Zeug in der Schüssel hat sie mir die Wunde ausgewaschen. Hat eklig gerochen und wie verrückt gebrannt.«

Dann sagte die Frau: »Kannste dich aufsetzen, Hinny? Versuch’s mal. Sachte, sachte. Geht’s?«

Als Roxy sich aufrappelte, standen sie mit einem Mal vor ihr. Die kleine Kamera fing alles ein.

Der formlose Pulli der Frau schien selbst gestrickt. Ihre schlanken Hände wirkten rau und spröde. Sie hielt sie vor der Brust gefaltet, als wäre sie sehr besorgt.

Der obere Teil ihres Kopfes war nicht zu sehen, aber sie machte ein freundliches Gesicht. Sie sagte was zu dem Jungen: »Go-ther svine, Alve. Go-ther svine.«

Der Junge war eindeutig ihr Sohn. Von den blassblauen Augen bis zum aschblonden Haar und den langen Fingern ähnelten sie sich. Auch ihm fehlten Zähne und die anderen waren gelb. Seine Klamotten wirkten altmodisch. Stoffhosen (keine Jeans) und Hemd. Tante Alice hätte wohl »adrett« dazu gesagt, aber ich fand, er sah aus, als hätte er sich die Sachen von seinem Vater geborgt. Die Sonnenbrille, die ihm um den Hals hing, rundete das seltsame Outfit ab.

Im Hintergrund war ein dunkles, vollgestopftes Zimmer zu sehen mit altmodischen Sesseln und einem Tisch, auf dem sich Papiere stapelten. Der Kaminsims war mit Vasen und Schnickschnack überfüllt, auf dem Boden lagen weitere Papierstapel und …

»Mann, wie sieht es denn da aus!«, sagte ich.

Roxy lachte. »Oh, là, là, ein Ordnungsfreak!«, neckte sie mich. »Aber ich weiß schon, was du meinst. Und da hat es auch ziemlich gerochen …«

»Schlecht?«

Roxy kräuselte die Nase, als könnte sie sich so besser an den Geruch erinnern. »Nicht richtig schlecht. Nur … nach Mottenkugeln. So wie bei alten Leuten, die viel Krempel haben. Ein wenig muffig vielleicht. Es war aber alles sauber.«

Ich nickte. Bei Gran und Grandad roch es auch ein bisschen, dabei waren sie noch nicht mal richtig alt. Wieder schauten wir auf den Monitor.

»Wie fühlst du dich, Hinny? Bisschen schwindelig? Nun steh auf – sachte, sachte.«

»Sie klingt doch ganz normal«, sagte ich. »Richtig nett.«

»Ich weiß«, antwortete Roxy. »Wart’s nur ab.«

»Kannst du dich bewegen? Nix gebrochen? War ’n ganz schöner Bums.«

Das Bild wackelte, während Roxy offenbar Arme und Beine bewegte. »Nichts gebrochen. Danke. Ich geh dann mal lieber.«

Dann meldete sich der Junge plötzlich wieder zu Wort. »Sicher? Du brauchst nicht sofort zu gehen. Nachher hast du noch eine Gehirnerschütterung.«

Daraufhin folgte eine Unterhaltung in ihrer Sprache, von der ich nichts verstand, nur das Wort »Al-vuh« fiel wieder. Weil man die beiden nicht sah, war es schwer einzuschätzen, aber es klang so, als würde die Frau den Jungen zurechtweisen.

»Halt mal an«, sagte ich zu Roxy. »Worum geht es da?«

Roxy zuckte die Achseln. »Woher soll ich das wissen?«

Wir spulten zurück, um es uns erneut anzuhören. »Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, sie verbietet ihm, dich einzuladen. So klingt es wenigstens«, meinte ich.

Wir hörten es uns noch ein drittes Mal an und Roxy stimmte mir zu. »Ich wollte eh nicht bleiben. Ich hatte eine Heidenangst.«

Die Kamera fing nun den restlichen Teil des Zimmers ein. In manchen Ecken türmten sich die Bücher und Papiere so hoch, dass sie umzufallen drohten. An einer Wand stand ein Bücherregal, das wahrscheinlich so viele Bücher enthielt wie unsere gesamte Schulbibliothek, alle kreuz und quer reingestopft. Titel konnte ich keine erkennen, dafür bewegte sich die Kamera zu schnell, aber es waren alte Bände, keine grellbunten Taschenbücher. Der schwarz-weiße Schwanz einer Katze huschte durchs Bild.

Roxys Stimme: »Ich … ich muss jetzt wirklich gehen. Danke. Vielen Dank.«

Die Frau trat vor sie und wirkte jetzt wesentlich weniger freundlich.

»Hinny, du hast mir gar nicht erzählt, was du hier wolltest. Was hattest du überhaupt auf unserem Grundstück zu suchen? Es ist eindeutig privat und du und dein Freund, ihr müsst ja die Zäune durchbrochen haben.«

»Mein … mein …«

»Deinen Freund. Oh ja, den haben wir auch gesehen, nicht wahr, Alve?«

Der Junge nickte gequält. Ganz offensichtlich behagte ihm das Kreuzverhör nicht.

»W… wir haben uns verlaufen.«

Die Frau rückte nah heran. »Ach ja? Dann mach so was nicht noch mal, sonst sag ich’s den Bobbys.« Daraufhin lächelte sie kalt, so nach dem Motto: Ich will ja nicht gemein sein, aber unterschätz mich nicht.

Keine Ahnung, was sie mit »Bobbys« meinte. Ich sah Roxy an, doch die zuckte nur die Achseln. Es klang jedenfalls nicht gut.

Im Film stammelte Roxy Entschuldigungen und bewegte sich langsam aus dem Zimmer durch einen ebenfalls dunklen und komplett vollgestellten Flur auf eine riesige Holztür mit einem kleinen Fenster zu. Ihre Hände griffen nach der Klinke, und als sie sich noch mal umdrehte, stand bloß der Junge vor ihr.

»Tut mir leid«, sagte Roxy erneut und da geschah etwas Seltsames.

Der Junge lächelte scheu, was man wegen Roxys Größe nur am oberen Bildrand sah. Dann sagte er: »Mir auch.« Er schaute sich um und fügte noch leiser hinzu: »Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder?« Irgendwie klang er traurig, aber auch hoffnungsvoll. Die Schritte seiner Mutter näherten sich.

Die Holztür wurde geöffnet und er sagte: »Da geht’s lang.« Am Bildrand winkte er ihr schüchtern hinterher und die (überwiegend) schwarze Katze huschte in der Ecke davon.

Dann machte sich Roxy aus dem Staub und man hörte nur noch stampfende Füße und das Bild hüpfte auf und ab.

Und nun saß sie völlig selbstzufrieden vor mir.

»Hab ich’s dir nicht gesagt? Die fremde Sprache, die Tinktur, die alten Bücher, die Drohung? Die ist voll die Hexe!«

Der 1000-jährige Junge

Подняться наверх