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3. Kapitel 1.
Оглавление»Hallo Großmama!« Ricarda bemühte sich, besonders fröhlich zu klingen. Sie konnte sich vorstellen, dass ihre Großmutter sich genügend Sorgen machte. Sollte sie wenigstens durch ihre Enkelin ein wenig aufgemuntert werden.
»Guten Tag, mein Kind.« Viola Richter warf einen skeptischen Blick auf den rosaroten VW Golf, der vor dem Haus parkte und dessen Beifahrertür Ricarda mit großer Geste aufhielt. »Werden wir die Fahrt mit dem Ding überleben?«
»Aber klar doch, der Wagen ist wie ein guter Freund«, lachte Ricarda. »Zuverlässig, treu, immer zur Stelle.«
»Deine Freunde kann ich mir lebhaft vorstellen, Kind«, ächzte Viola Richter, als sie sich mühsam in den Wagen zwängte. »Kleiner hätten sie das Ding wohl nicht bauen können?«
Ricarda schlug die Tür zu und ging um das Auto herum. »Also, ich find’s süß«, sagte sie, als sie sich neben ihre Großmutter setzte. »Außerdem findet man viel leichter einen Parkplatz in der Stadt.«
Viola Richter sparte sich einen Kommentar. Ricarda hörte sie lediglich etwas Unverständliches murmeln. Als sie im nächsten Moment anfuhr – vielleicht ein bisschen zu sportlich –, sah Ricarda aus den Augenwinkeln, wie ihre Großmutter ein flaches Metallfläschchen aus der Handtasche holte, die Verschlusskappe vollschenkte und diese dann einmal und noch ein zweites Mal hinunterstürzte.
»Großpapa wird bestimmt bald wieder nach Hause können«, sagte Ricarda, um der alten Dame Mut zu machen.
»Dein Wort in Gottes Ohr, Kind.« Viola Richter legte beide Hände vor sich auf das Handschuhfach. Als würde sie Achterbahn fahren, dachte Ricarda. Sie wusste, dass in der harten Schale, die ihre Großmutter so oft zur Schau trug, in Wirklichkeit ein weicher Kern verborgen war. Viola Richter war eine stolze Frau. Sie entstammte einer alten schottischen Adelsfamilie, sie hatte Gin im Blut, wie Großpapa immer sagte. Und das meinte er als Kompliment, weil seine Frau temperamentvoll und immer geradeheraus war.
»Verkaufen sie solche Autos gleich mit Lebensversicherung?«, fragte Viola Richter, und Ricarda musste lachen.
»Solange du noch zum Scherzen aufgelegt bist, kann es so schlimm ja nicht sein, Großmama.«
»Na ja, vielleicht hältst zumindest du dich an die Straßenverkehrsordnung.«
»Du meinst, anders als Papa?«
»Zum Beispiel. Mit deinem Vater fahre ich jedenfalls nicht mehr.«
»Kannst du auch gar nicht«, meinte Ricarda. »Er darf nämlich nicht mehr fahren. Jedenfalls für die nächsten zwei Jahre. Sie haben ihm den Führerschein abgenommen.«
»Endlich«, seufzte Viola Richter. »Das ist einmal eine gute Nachricht, für ihn und für die ganze Stadt. Wenn ich daran denke, wie oft er schon Ärger mit der Polizei hatte. Er kann einfach nicht Auto fahren.«
»Aber Großmama, das liegt doch nicht daran! Das ist nur, weil er keine Regeln akzeptieren kann.«
»Keine Regeln akzeptieren, pah«, machte Viola Richter. »Jeder Mensch kann Regeln akzeptieren. Ich weiß schon, dass es ihm immer schwergefallen ist. Wenn ich nur daran denke, wie schwierig er war, wenn er mal einen Plumpudding essen sollte oder unseren schottischen Weihnachtskuchen …«
»Großmama! Das kannst du doch nicht vergleichen mit dem Verstoß gegen ein Gesetz!«
»Na, im Kleinen fangt es an …«
»Nein, Großmama, wirklich, das ist was anderes. Mama hat es mir einmal erklärt.«
Viola Richter blickte erstaunt zu ihrer Enkeltochter hin. Seit Alexandra gestorben war, war es das erste Mal, dass Ricarda ihre Mutter erwähnte. »Sie hat es dir erklärt?«
»Ja. Sie hat es zumindest versucht. Ich meine, damals war es natürlich noch nicht so schlimm. Aber inzwischen ist es nur noch deutlicher geworden.« Ricarda sah sich um und wechselte die Spur. »Es hängt mit seinem früheren Job zusammen.«
»Du meinst, als Anwalt?«
»Nein, in der Politik.«
»Aber da war er doch nur ein ganz kleines Licht.«
»Er war Referent im Wirtschaftsministerium. Ganz klein ist das nicht.« Plötzlich hatte Ricarda das Gefühl, sie müsse ihren Vater gegen seine Mutter in Schutz nehmen. »Und er wusste, was wichtig war und was hätte getan werden müssen. Aber sie haben es nicht getan. Er ist richtig fies ausgebremst worden. Sie haben seine Gesetzesentwürfe umgekrempelt, bis sie nicht mehr wiederzuerkennen waren.«
»Vielleicht waren sie nicht gut?«
»Großmama, sie waren gut! Aber sie haben den machtgeilen Berufspolitikern halt nicht gepasst. Mama hat mir’s wörtlich gesagt, was der Senator zu Papa gesagt hat: ›Wir haben Wahlen zu gewinnen, keine Wohltätigkeitsveranstaltungen.‹ Dabei hatte Papa bloß das umgesetzt, was in den Verhandlungen abgemacht worden war.«
Viola Richter legte behutsam eine Hand auf Ricardas Arm. »Deine Mutter war eine gute Ehefrau, mein Kind. Sie wollte halt in deinem Vater nur das Beste sehen. Und vielleicht hatte sie recht. Aber mit seinem Verkehrsrowdytum hat das alles nichts zu tun.«
»Doch. Hat es. Es hat deshalb etwas damit zu tun, weil Papa das Vertrauen in die Gesetze verloren hat. Er hat gesehen, wie Gesetze wirklich gemacht werden – und seitdem will er sich nicht mehr daran halten.«
»Aha«, sagte Viola Richter, und Ricarda hörte genau, dass sie das für eine naive Theorie eines naiven Mädchens hielt. Aber inzwischen waren sie fast bei der Klinik angekommen, es hatte keinen Sinn, die Diskussion fortzusetzen.
Ricarda warf ihrer Großmutter einen Blick zu. »So sehe ich das jedenfalls.«