Читать книгу In besten Händen - Sky du Mont - Страница 4
Оглавление1. Kapitel
1.
Hätte nicht der alte Bergström an diesem Tag wegen einer Beerdigung Urlaub gehabt, es wäre nie zu dem Eklat gekommen. So aber begrüßte ein neuer Clubsekretär die Gäste, und man konnte ihm kaum verübeln, dass er so danebenlag. Bergström hätte die Situation mit souveräner Gelassenheit und formvollendet gerettet – selbst wenn er den ungewöhnlichen Besucher an diesem Sonntagmittag nicht gekannt hätte!
Die Mitglieder der vornehmen »Alstergesellschaft von 1887« schätzten es, ihren Lunch im Kreise der Ihren zu sich zu nehmen – ungestört vom Lärm der weiter südlich gelegenen touristischen Binnenalster und dem »gewöhnlichen Volk«. Im Club war man unter sich. Es war eine Art von Adel, der sich täglich hier begegnete. Doch nicht durch bloße Abstammung, sondern durch eigenes Verdienst zählte man zu den Reihen der »Alstergesellschaft von 1887«. Neue Mitglieder nahm die Gesellschaft nur auf, wenn eines der alten Mitglieder verstarb. Es war vermutlich leichter, in die Académie française aufgenommen zu werden als in die Alstergesellschaft.
Als gegen 12.00 Uhr ein Mann im Jogginganzug das Foyer betrat, schrillten bei dem neuen Clubsekretär gleich die Alarmglocken. Es war offensichtlich, dass sich ein ungebetenes Subjekt Zugang zu den Clubräumen zu verschaffen versuchte! »Verzeihung, mein Herr«, hielt er ihn auf, »darf ich fragen, wohin Sie wollen?«
»In den Salon, denke ich«, antwortete der Jogger und fuhr sich mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn. »Und anschließend vielleicht ins Restaurant.«
»Ah ja«, sagte der Clubsekretär und versuchte, den Mann zurückzudrängen. »Und Sie sind sicher, dass Sie hier richtig sind?«
»Ich denke doch, ja«, erwiderte der Eindringling, machte einen Schritt zur Seite und fragte mit spöttischem Lächeln: »Oder residiert die Alstergesellschaft nicht mehr hier?«
»Gewiss, das tut sie.« Der Clubsekretär hatte sichtlich Mühe, die Fassung zu wahren. Was bildete sich dieser ungepflegte, schwitzende Mensch ein. Er überwand sich und packte den Mann am Ärmel. »Aber nur für Mitglieder. Wenn ich Sie also bitten darf …«
»Hoppla!«, rief der Eindringling und riss sich los. »Wollen Sie mich hier rauswerfen? Vielleicht sollten Sie sich erst einmal erkundigen, mit wem Sie es zu tun haben. Ich bin Doktor Richter!«
»Gewiss«, sagte der Clubsekretär. »Und ich bin der Kaiser von China. Herr Doktor Richter ist längst hier. Wenn ich Sie also nochmals höflich bitten dürfte … Wir erörtern das besser vor der Tür, an der frischen Luft.« Erneut griff er nach dem Arm des Mannes, doch der stieß ihn von sich und durchmaß mit großen Schritten die Halle, um die Tür zum Salon aufzureißen. Der Clubsekretär hastete hinterher und klammerte sich an den Eindringling, als ginge es um sein Leben oder zumindest um seinen Job, während sich die Gesichter der Anwesenden zu ihnen umwandten.
»Papa!«, rief der Jogger. »Kannst du mir das erklären?« Und er nickte in Richtung auf den deutlich kleineren Empfangschef, der in dieser Sekunde erkannte, dass er zu weit gegangen war, und losließ. »Empfangt ihr neuerdings eure Gäste mit roher körperlicher Gewalt?«
»Mark!«, seufzte ein Mann älteren Semesters und erhob sich aus seinem Clubsessel. »Was ist das denn für ein Auftritt?«
»Verzeihung, Herr Doktor Richter«, stotterte der Clubsekretär. »Er hat sich für Sie ausgegeben …«
»Ich sagte, ich bin Doktor Richter«, korrigierte der Eindringling und blickte den Empfangschef mit süffisantem Lächeln an.
»Nun, das ist er, Kleinschmidt«, erklärte der ältere Herr. »Er trägt nun einmal meinen Nachnamen – und auch denselben Titel.«
Doktor Reinhard C. Richter, Seniorpartner von Richter & Oppenheim, der alteingesessenen Hamburger Privatbank, legte den Arm um seinen Sohn und bugsierte ihn zu seinem Tisch. »Komm, setz dich, dann können die anderen Gäste sich endlich wieder auf ihre Angelegenheiten konzentrieren.«
»Gerne, Papa«, erwiderte Mark Richter. »Wollte nur mal sehen, wie es meinem alten Herrn so geht.«
»Danke. Bis eben konnte ich noch nicht klagen.«
»Das darfst du einem Anwalt nicht sagen«, lachte Mark. »Nicht klagen zu können ist für meinen Berufsstand wenig erquicklich.«
Der alte Mann seufzte und blickte zu seinem Sohn hin, der sich in einem so gar nicht angemessenen Aufzug präsentierte. »Anwalt ohne Zulassung solltest du wohl sagen.«
»Ich könnte sie jederzeit wiederbekommen.« Mark nahm sich eine Traube aus der Schale auf dem Tisch und ließ den Blick durch den Raum schweifen.
»Mir scheint eher, du legst es darauf an, sie möglichst nicht wiederzubekommen«, stichelte sein Vater. Er nahm seine Brille ab und fuhr sich über das immer noch dichte weiße Haar.
»Ach, Papa.« Mark winkte ab. Diese Diskussion hatten sie schon so oft geführt. »Lädst du mich zum Essen ein?«
»In diesem Aufzug?«
»Wieso, du siehst doch perfekt aus.«
»Ich spreche von dir, mein Junge.«
»Oh, für mich ist das fein genug.«
Einen Augenblick schwieg der alte Herr und ließ nachdenklich seine Augen auf diesem Jungen ruhen, der inzwischen selbst ein gemachter Mann sein müsste, der eigentlich gut aussah, intelligent war und, ja, auch charmant – und der doch hier saß wie ein Mann, der bessere Tage gesehen hatte, verschwitzt, unrasiert, abgezehrt. Wenn Mark sich ordentlich anzog, wenn er sein Haar kämmte und sich rasierte, dann war er eine beeindruckende Erscheinung. So aber … Reinhard Richter atmete tief durch. »Für mich ist das zu früh. Aber du kannst dir gerne ein Sandwich bestellen. Ich muss mich jetzt auf den Weg machen, habe noch etwas zu erledigen.« Er erhob sich, strich sich den Anzug glatt, blickte sich kurz um und klopfte dann seinem Sohn auf die Schulter. »Also, wir sehen uns zu Hause? Deine Mutter würde sich sehr freuen, dich mal wieder bei uns zu begrüßen.« Er war schon im Gehen, als er sich noch einmal umdrehte, zurückkam und sich zu Mark hinunterbeugte. »Und bitte trink keinen Alkohol dazu, ja?«
2.
Es war ein klarer Tag, nicht warm, aber ungewöhnlich windstill. Möwen kreisten über dem Alstervorland. Es tat gut, sich so richtig zu verausgaben. Mark hatte auf das Sandwich verzichtet und hatte den Club schon kurz nach seinem Vater verlassen, um nach Hause zu laufen. Durch die Baumkronen blitzte die Sonne, der Weg war noch nass vom Regen am Vorabend. Studenten führten die Hunde der Reichen spazieren. Mark ärgerte sich, dass er Nelson nicht mit zum Joggen genommen hatte. Dem hätte ein wenig Bewegung auch gutgetan. Mark musste lächeln, als er an den Clubsekretär dachte und daran, wie wunderbar die Szene womöglich eskaliert wäre, wenn er auch noch den Hund dabeigehabt hätte, dieses Riesenvieh, das er von einer Tante mütterlicherseits geerbt hatte.
Es war kurz vor dem Fährpark, als an Mark ein Notarztwagen mit Blaulicht und Sirene vorbeifuhr und gut hundert Meter weiter entfernt auf der Straße stehen blieb. Es schien sich um einen Autounfall zu handeln. Mark sah genauer hin. War das nicht der dunkelblaue Mercedes seines Vaters? Ein seltsames Gefühl beschlich ihn. Mark beschleunigte seine Schritte. Er merkte nicht, wie seine Lunge nach Luft verlangte, wie seine Muskeln sich schmerzhaft spannten, als er über den Rasen rannte. Mit weit aufgerissenen Augen und atemlos erschöpft lief Mark auf den Rettungswagen zu – ehe er am Bordstein umknickte und stürzte.
3.
»Sie sollten dich hierbehalten und mich nach Hause schicken«, sagte mit spöttischem Ton Reinhard Richter und sah zu seinem Sohn auf, der mit verbundener Schulter an seinem Bett stand. »Ich weiß nur nicht, ob sie hier überhaupt eine psychiatrische Abteilung haben.«
»Papa«, seufzte Mark. Sein Mund war trocken, sein Schädel brummte trotz der Medikamente, die er bekommen hatte. »Wie ist das passiert?« Mark sah vor seinem geistigen Auge noch den Wagen seines Vaters vor sich, die weit aufgerissene Fahrertür, die Trage, auf der man ihn in den Laderaum des Rettungswagens schob …
»Ihr Vater ist hier, weil er offenbar am Steuer einen leichten Schlaganfall erlitten hat«, schaltete sich der Arzt ein, der an Reinhard Richters Seite stand.
»Ich erinnere mich«, murmelte Mark. »Das Blaulicht, der Wagen, der Mercedes. Dann war es also kein Unfall …«
»Irgendein Idiot hat mir die Vorfahrt genommen«, entrüstete sich Reinhard Richter.
»Sie sollten sich nicht aufregen«, erinnerte ihn der Arzt.
Mark schloss für einen Moment die Augen. Ein Schlaganfall. Wie alt war sein Vater jetzt? Dreiundachtzig. Und so aktiv wie eh und je. Kein Tag, an dem der alte Reinhard Richter nicht wenigstens zehn Stunden im Büro oder bei Geschäftsterminen verbrachte, kein Empfang, bei dem er nicht zugegen war, keine repräsentative Pflicht, die er nicht für sein Hanseatisches Beteiligungs-Kontor wahrgenommen hätte. Es war kein Wunder, wenn er einen Schlaganfall erlitt. »Ist es sehr schlimm?«, fragte er.
»Wir werden Ihren Vater ein paar Tage zur Beobachtung hierbehalten«, erwiderte der Arzt. »Soweit wir bisher sagen können, sind seine Körperfunktionen im Großen und Ganzen unbeeinträchtigt geblieben …«
»Herr Doktor«, unterbrach ihn Richter. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie nicht von mir in der dritten Person sprächen. Immerhin bin ich noch kein vergreister Trottel!«
»Entschuldigen Sie, Herr Doktor Richter.« Der Arzt sah auf seinen Beeper. »Ah, ich werde gerufen. Wenn Sie mich bitte entschuldigen …«
Er war gerade an der Tür, als von draußen ein aufgeregter Wortwechsel hereindrang. Unmittelbar darauf öffnete sich die Tür, und Mark musste lächeln, als er eine ihm wohlbekannte Stimme hörte: »Papperlapapp, Besuchszeiten. So ein Unfug. Ich wüsste nicht, dass Sie mir etwas zu sagen hätten …«
4.
Viola Richter liebte den großen Auftritt. Doch was nun folgte, überstieg ihr Talent zur Inszenierung. Sie hatte mit einem Patienten gerechnet. Stattdessen sah sie sich plötzlich ihrem Mann und ihrem Sohn gegenüber, der eine im Krankenbett, doch scheinbar munter, der andere mit bedrückter Miene und verbundener Schulter. »Was haben Sie mit meinem Sohn gemacht?«, fuhr sie den Arzt barsch an und eilte auf Mark zu, der sich tapfer bemühte, einen gefassten Eindruck zu machen. »Mama!«
»Mark. Was ist mit dir?«, flehte die alte Dame und nestelte heftig an ihren Handschuhen, die sie aber vor Aufregung kaum von den Händen brachte. »Was ist mit ihm?«, fragte sie noch einmal den Arzt. Es war unschwer zu erkennen, dass sie mühsam um Fassung rang. Dennoch war sie in ihrem Dior-Kostüm und mit ihrer kerzengeraden Haltung eine eindrucksvolle Person.
»Gnädige Frau«, versuchte der Arzt mit beschwichtigender Stimme. »Hier muss ein Missverständnis vorliegen. Ihr Sohn …?« Er sah mit fragender Miene zu Mark hin, der nickte, und fuhr dann fort: »Ihr Sohn hat lediglich eine leichte Gehirnerschütterung und einen Haarriss der Schulterkapsel. Ihr Gatte dagegen hat einen Gehirnschlag erlitten.« Er wies mit der Hand auf Reinhard Richter, als müsse er die Dame darauf hinweisen, welcher von beiden ihr Ehemann sei.
»Reinhard«, sagte Viola Richter mit strengem Ton. »Was hast du wieder angestellt.« Und zum Arzt gewandt: »War Alkohol im Spiel?«
Der Arzt hob nur vage die Hände. Doch das war der alten Dame Beweis genug. »Da siehst du es. Die Trinkerei ist ein Fluch. Und du wirst daran zugrunde gehen.«
»Also Viola«, verteidigte sich Reinhard Richter, »ich muss schon sagen, von uns beiden bist eindeutig du …«
»Reinhard, du vergisst dich!«, fuhr ihm seine Frau ins Wort. Sie nahm Marks Hand und seufzte: »Ach, mein Junge. Was machst du nur immer für Sachen.«
Von der Tür her war ein Hüsteln zu hören. »Ähm, ich stör ja ungern, aber vielleicht könnte uns Herr Doktor Wenger kurz erzählen, was Sache ist?« Eine junge Frau um die zwanzig trat ein und streckte dem Arzt selbstbewusst eine Hand entgegen. »Ricarda Richter. Sieht so aus, als hätten Sie meinen Vater und meinen Großvater hier bei sich zur Pflege.«