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6. Vermisstenfälle
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Auch hinter den Vermisstenzahlen verbergen sich (noch) unerkannte Mordopfer. Jeden Tag werden in Deutschland zwischen 150 und 250 Personen als vermisst gemeldet. 50 % dieser Vermisstenfälle erledigen sich innerhalb einer Woche, 80 % binnen eines Monats, 97 % innerhalb eines Jahres. Nur etwa 3 % der Gesuchten bleiben länger als 1 Jahr verschollen[57]. Die Personenfahndung wird nach 30 Jahren eingestellt. In Deutschland verschwinden jährlich etwa 10.000 Kinder. Die meisten Kinder tauchen zum Glück nach spätestens 3 Tagen wieder auf. Sie waren ausgerissen oder von einem Elternteil entführt worden.
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Am 1. Juli 2009 wurden 5.574 deutsche Personen vermisst; darunter befanden sich 536 Kinder[58]. Vielleicht erst nach Jahren bestätigt sich die Befürchtung, dass ein vermisstes Kind Opfer eines Sexualmörders[59], womöglich sogar eines Serientäters geworden ist. Auch zahllose Erwachsene verschwinden spurlos, und längst nicht in allen Fällen ist gleich an ein Verbrechen zu denken. Einige wenige tauchen aus sehr persönlichen Gründen unter, um anderenorts ein neues Leben zu beginnen. Auch als verwirrt geltende hilflose Personen, die sich aus dem Blickfeld ihrer Angehörigen oder Betreuer entfernt haben, stehen vorübergehend auf den Vermisstenlisten. Viele Suizidenten hinterlassen Abschiedsbriefe und werden fortan nicht mehr lebend gesehen. Bis Klarheit über das Schicksal einer verschwundenen Person herrscht, wird der Fall allzu oft und zu lange nur als Vermisstensache geführt. Wichtige Spuren gehen so unwiederbringlich verloren. Eher routinemäßig wird das Umfeld der verschwundenen Person „abgeklopft“. Angesichts der vielen „Fehlalarme“ ist diese Halbherzigkeit durchaus verständlich. Erst wenn der Tod durch das Auffinden der sterblichen Überreste unumstößlich feststeht und Einschätzungen möglich sind, wann, wie und wo der Mensch zu Tode gekommen sein könnte, kommen intensive Ermittlungen in Gang.
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Solange sich der Staatsanwalt nur auf Hypothesen, Gerüchte und Vermutungen stützen kann, wird er eine Mordanklage gegen den Tatverdächtigen nur in Ausnahmefällen und nach reiflicher Überlegung riskieren. In einem Kriminaljustizsystem, das dem Tatrichter eine rational stichhaltige Beweisführung abverlangt[60], kann ein Mordprozess ohne Leiche schon bald zum Fiasko geraten. Paradebeispiel ist das „Mordverfahren“ gegen den Geschäftsmann Hans Hansen, den seine Düsseldorfer Ankläger beschuldigten, den spurlos verschwundenen Millionär Otto Erich Simon beseitigt zu haben. Hansen verbüßte 44 Monate U-Haft, bis im Jahre 1996 nach mehr als 139 Verhandlungstagen das Verfahren an der Schwelle zum Freispruch wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten eingestellt werden musste. Auch der Indizienprozess um eine seit 1992 spurlos verschwundene Görlitzerin endete im Februar 2001 mit einem – vom BGH bestätigten – Freispruch. Ihrem Ehemann war zur Last gelegt worden, die Frau, die sich von ihm scheiden lassen wollte, „auf unbekannt gebliebene Art und Weise“ getötet zu haben, um so das gemeinsame Haus nicht zu verlieren und Unterhaltsansprüchen zu entgehen (Habgier!). Die Richter konnten nach zwölftägiger Hauptverhandlung noch nicht einmal ausschließen, dass die Ehefrau noch lebt oder sich infolge der Eheprobleme selbst das Leben genommen hat[61].
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Es beruhigt, dass man angesichts vorherrschender Beweisarmut rechtskräftige Schuldsprüche mit der Lupe suchen muss. Liegt kein Geständnis vor und gibt es weder unmittelbare Tatzeugen noch eindeutige Sachbeweise, wirft jede Verurteilung in einem Mordfall ohne Leiche zwangsläufig die Frage nach den Grenzen richterlicher Erkenntnisfähigkeit auf. So etwa 1997 im Fall des einstigen Saarbrücker „Rotlichtkönigs“ Hugo Lacour, der 1985 seinen Geschäftspartner Weirich aus dem Weg geräumt haben soll, um an dessen Vermögen zu gelangen. Das SchwurG erkannte wegen Mordes auf lebenslange Haftstrafe, die Schuldschwerefeststellung[62] inbegriffen. Obwohl Weirichs Leiche nie gefunden wurde, war die Beweiswürdigung nach Meinung des BGH nicht zu beanstanden. Die Aussagen und Indizien trügen die Feststellung, dass der Angeklagte das Opfer „aus Habgier entweder eigenhändig umgebracht oder dessen Tötung durch andere veranlasst“ habe[63].
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Für viel Konfliktstoff hat die äußerst fragwürdige Verurteilung des Hartmut Crantz durch das Lübecker Landgericht gesorgt. Dessen Ehefrau war spurlos aus ihrem Haus im schleswig-holsteinischen Ratzeburg verschwunden. Die Familie der Vermissten war überzeugt, Crantz habe sie ermordet, um einer Scheidung zuvorzukommen. Obwohl die Leiche der Frau und Tatspuren nicht gefunden worden sind, das Tatgericht „keine näheren Feststellungen zum eigentlichen Tötungsgeschehen treffen konnte“, Zeugen die Vermisste sogar noch Tage nach ihrem Verschwinden im Nachbarort gesehen haben wollten und Crantz immer wieder seine Unschuld beteuert hatte, wurde er im Dezember 2001 des Mordes für schuldig befunden. Die Richter, die ein „Lebenslänglich“ verhängten, hatten – in Tatsachenalternativität[64] – sage und schreibe sechs (!) verschiedene Möglichkeiten des Tathergangs – teilweise wiederum mit Untervarianten – „festgestellt“. Nachdem diese (erste) Verurteilung vom BGH[65] kassiert werden musste, hat das LG Lübeck im April 2003 in der Neuauflage abermals auf Mord erkannt. Zwei Tage später erhängte sich Crantz in seiner Haftzelle[66].
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Eindeutiger war offenbar die Indizienlage gegen drei Angeklagte, die 2009 durch das LG Darmstadt wegen Anstiftung bzw. Mordes aus Habgier an einer Person verurteilt wurden, deren Leiche man bis heute nicht gefunden hat. Einer der Angeklagten hatte bei dem Getöteten Schulden in Höhe von rund 50.000 €. Um sich seines Gläubigers zu entledigen, gab er dessen Ermordung bei den zwei Mitangeklagten in Auftrag. Die Angeklagten, die zur Sache schwiegen, wurden unter anderem anhand der polizeilichen Observation bei der nach der Tötung erfolgten Geldübergabe, der Auswertung von Geodaten der Mobiltelefone der Beteiligten sowie des in der Wohnung des Getöteten gesicherten Spurenmaterials überführt[67].
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Vorläufiger Schlusspunkt und Warnruf zugleich ist der Fall des seit 2001 spurlos verschwundenen Bauern Rudolf Rupp. Die Verurteilung seiner Ehefrau sowie der beiden Töchter und des Ex-Verlobten einer Tochter wegen Totschlags und Beihilfe dazu erwies sich als tragischer Justizirrtum. Rupp war entgegen der getroffenen „Feststellungen“ keineswegs von seinen Angehörigen erschlagen, zerstückelt und an die Hofhunde verfüttert worden. Noch im Pkw sitzend und äußerlich unversehrt, wurde Rupps Leiche Jahre danach aus der Donau geborgen[68].
Teil 1 Einführung › A › III. Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten