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c) Schütteltrauma-Fälle

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Das Schütteltrauma-Syndrom (SBS; „shaken baby syndrome“) ist eine Form der Kindesmisshandlung, bei der ein Säugling oder Kleinkind an Brustkorb oder Extremitäten gehalten und der Kopf durch ein kräftiges Schütteln in eine heftige unkontrollierte Bewegung mit einer ausgeprägten rotatorischen Komponente versetzt wird. Es kommt zum Abriss von Blutgefäßen (Brückenvenen) und Nervenverbindungen sowie durch einen initialen, kurzzeitigen Atemstillstand zur Hirnschwellung. Das klinische Bild des SBS ist – in variablen Kombinationen – gekennzeichnet durch Anzeichen einer schweren nichtentzündlichen Hirnschädigung, Unterblutungen der harten Hirnhaut (Subduralblutungen; SDB) und Einblutung der Netzhaut (retinale Blutungen; RB), Griffmarken an den Armen, seltener auch Frakturen der langen Röhrenknochen (Oberarmknochen, Elle, Speiche) oder Rippenfrakturen. Auffallend ist die nicht selten ungereimte Unfallanamnese. Die Letalität beträgt bis zu 30 %; bis zu 70 % der Überlebenden erleiden Langzeitschäden.

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Das Schütteltrauma bei Kleinstkindern wurde erst Mitte der 70er von der Rechtsmedizin wissenschaftlich beschrieben. Blutungen im Schädelinneren, die durch Schütteln oder Schlagen entstehen, waren bis dahin zumeist unentdeckt geblieben. Soweit äußerlich erkennbare Kennzeichen einer Misshandlung fehlten, wurde bei den Opfern durchweg Plötzlicher Kindstod diagnostiziert. Der sog. Plötzliche Kindstod oder Krippentod (SIDS = Sudden Infant Death Syndrom) betrifft Jahr für Jahr hunderte von Elternpaaren; im Jahr 2010 waren es genau 164 Todesfälle[153]. Verlässliche Daten zur Häufigkeit des Schütteltrauma-Syndroms liegen für Deutschland nicht vor. Schätzungen gehen von jährlich etwa 100 – 200 Todesfällen aus. Laut einer im Jahre 2005 veröffentlichten Studie zum Plötzlichen Säuglingstod in Deutschland ließ sich durch eine Obduktion in fast jedem 50. vermeintlichen Fall Plötzlichen Kindstods ein Schütteltrauma-Syndrom als Todesursache aufdecken[154]. Problematisch ist, dass es in sehr seltenen Einzelfällen auch bei banalen Stürzen aus geringer Höhe (z.B. vom Sofa) zur Entstehung schwerer und sogar tödlicher Blutungen durch Einriss von Hirnhautarterien und einem epiduralem Hämatom oder zum Einriss von Brückenvenen und damit zu einem massen- und druckwirksamen subduralen Hämatom kommen kann. Da sich die Symptome durchaus mit zeitlicher Verzögerung einstellen, ist längst nicht immer klar, auf welches konkrete Geschehen die jeweiligen Schädigungen zurückzuführen sind.

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Steht der Schuldige fest, stellt sich zur Abgrenzung eines Verletzungs- oder gar bedingten Tötungsvorsatzes von der (bewussten) Fahrlässigkeit regelmäßig die Frage nach der Bewusstseinslage des Täters. Welches Vorstellungsbild hatte er hinsichtlich der Folgen seines Handelns? Hat dieser selbst Rettungsbemühungen unternommen, kommt, wenn es beim Versuch geblieben ist, eventuell ein strafbefreiender Rücktritt in Betracht. Hat nur ein Elternteil Gewalt gegen das Kind geübt, könnte sich der andere dadurch mitschuldig gemacht haben, dass er nicht beizeiten gegen die Übergriffe eingeschritten ist und seinen Partner gedeckt hat, anstatt das Kind sofort in eine Kinderklinik zu bringen und Anzeige zu erstatten.

Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren

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