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b) Gewalthandlungen unter Zechbrüdern

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Schwurgerichtsvorsitzende müssten der vielen Totschlagsanklagen gegen Gewohnheitstrinker, allen voran die Tatverdächtigen aus dem Penner- und Stadtstreichermilieu, längst überdrüssig sein. Erst zechen die Trunkenbolde miteinander bis zur Besinnungslosigkeit, dann bringen sie sich im Gezänk über Belanglosigkeiten um. Nicht selten ist auch das Opfer sturzbetrunken. Was die Alkoholisierung und die Gewaltbereitschaft angeht, gleicht ein Fall dem anderen: Da erschlägt eine trinkgewohnte Angeklagte ihren Lebensgefährten im Verlauf eines Zechgelages aus nichtigem Anlass mit einem Hammer; Tatzeit-BAK deutlich über 3 ‰[197]. Im Streit um eine unberechtigte Geldforderung misshandelt ein volltrunkener „Alkoholiker mit pathologischer Intelligenzminderung“ (maximale BAK „um 3 ‰“; IQ: 55) seinen ihm körperlich unterlegenen Zechkumpanen, „mit dem er häufig gemeinsam Alkohol trank“, durch Schläge und Tritte, an deren Folgen dieser verstirbt. Schon einmal war der Täter wegen einer im Alkoholrausch (BAK 2,5 bis 3 ‰) begangenen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt worden[198].

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Und erst jetzt wieder eine tödlich verlaufene Auseinandersetzung im „sogenannten Trinkermilieu am Berliner Ost-Bahnhof“. Der Täter 27 Jahre alt, aus Polen stammend, Alkoholiker; das Opfer, ein 59 Jahre alter Alkoholkranker. Beim gemeinsamen Zechen gab es plötzlich Streit um eine Schachtel Zigaretten. Nach großem Hin und Her versetzte der Täter dem auf einer niedrigen Mauer sitzenden Geschädigten schließlich einen kräftigen Tritt seitlich gegen den Kopf, sodass dieser nach hinten in eine Rabatte fiel und dort zunächst einige Stunden unbeachtet liegen blieb. Er verstarb wenig später im Krankenhaus an Gehirnblutungen[199].

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Der hohe Anteil dieser Fallgruppe spiegelt sich auch in der Zahl weiterer einschlägiger BGH-Entscheidungen wider. So ging im Revisionsverfahren 5 StR 668/96[200] der abgeurteilten Körperverletzung mit Todesfolge (bei einer Tatzeit-BAK um 3,61 ‰) ein Streit unter Zechbrüdern voraus. Im Verfahren 4 StR 147/03[201] betrug die BAK des wegen Vollrausches verurteilten Angeklagten zur Tatzeit 4,02 ‰, als er seinen Zechgenossen durch Schläge mit der Faust und einer Taschenlampe sowie durch Fußtritte misshandelte, sodass dieser u.a. ein Schädelhirntrauma und mehrere Gesichtsfrakturen erlitt. Nicht anders lag es im Verfahren 4 StR 160/02[202]: Wieder einmal hatte die leicht reizbar und aggressiv reagierende Angeklagte nach erheblichem Alkoholgenuss, der nicht ausschließbar zu ihrer Schuldunfähigkeit geführt hatte, einen „Zechkumpanen“ derart geschlagen und getreten, dass dieser an den Folgen der Verletzungen verstorben war.

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Die forensischen Probleme liegen zunächst im Tatsächlichen und dort bei der Feststellung der inneren Tatseite (Tötungs- oder nur Verletzungsvorsatz?). Hochalkoholisiert (BAK 3,5 ‰) ersticht der Täter im Streit einen befreundeten Zechkumpanen und verletzt dessen streitschlichtend eingreifende Ehefrau schwer. Nach Auffassung des BGH war der Tötungsvorsatz in Bezug auf den Getöteten nicht tragfähig begründet; hinsichtlich der der Ehefrau zugefügten Verletzung hätte auch nur fahrlässige Begehungsweise erörtert werden müssen[203].

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Strafprozessual kann bei tödlicher Gewalt unter Mitzechern die Aufklärung des Sachverhalts schnell an Grenzen stoßen. Zuweilen muss selbst der geduldigste Verteidiger passen, wenn neben den unmittelbaren Tatzeugen auch sein tatverdächtiger Mandant gegen Wahrnehmungs- und Erinnerungsstörungen[204] anzukämpfen hat. Gelingt die Tatrekonstruktion dennoch, hat der Psycho-Sachverständige das Wort[205]. Gewöhnlich hat der Rechtsanwender nur zwischen verminderter Schuldfähigkeit[206] (§ 21 StGB i.V.m. §§ 211, 212 StGB) oder Vollrausch (§ 323a StGB)[207] zu entscheiden. Fast immer herrscht bei Strafjuristen und medizinischen Sachverständigen Ratlosigkeit, wie und ob der Täter überhaupt noch vom Alkohol wegzubringen ist. Zumeist steht sogar das Unterbringungsproblem[208] im Vordergrund.

Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren

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