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1. Beziehungstaten

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Bei der Mehrzahl der Tötungsdelikte handelt es sich um Beziehungstaten[76], die polizeisprachlich auch als Nahraumdelikte bezeichnet werden. 2010 fanden im Bereich von Mord und Totschlag zwei von drei vollendeten Taten unter Verwandten oder näheren Bekannten statt[77]. In nur 10,6 % der Fälle mit getöteten Frauen gab es nachweislich zuvor keine persönlichen Berührungspunkte[78]. Das Risiko der Frau, den Gewalttätigkeiten ihres männlichen Partners zum Opfer zu fallen, ist sechsmal größer als umgekehrt. Im Vergleich dazu laufen selbst zuvor misshandelte Frauen bei Tötung ihres Partners bzw. bei entsprechenden Tötungsversuchen weitaus häufiger Gefahr, wegen Mordes verurteilt zu werden. Das jedenfalls berichtet Oberlies[79], die geschlechtsspezifische Unterschiede in der Verurteilungsstatistik männlicher und weiblicher Mörder und Totschläger anhand von 177 Schwurgerichtsurteilen untersucht hat.

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Einen der vorderen Ränge in der Schwurgerichtsstatistik nehmen tödlich endende Konflikte zwischen Intimpartnern innerhalb der Trennungsphase ein, wobei zumeist die Frau den ungehemmten Aggressionen des Mannes zum Opfer fällt[80]. In hoher Zahl lassen sich die Täter durch heftige Gemütsbewegungen – sog. Affekte[81] –, diese vielleicht gepaart mit Alkohol[82], zur Tat hinreißen. Dem Angriff auf das Leben des anderen haftet zumeist wenig Planvolles an, wenngleich dem Tatgeschehen mitunter eine lange Phase des Nachstellens und des diffusen Drohens vorgelagert sein kann[83]. Nach dem Geschehen ist der Täter zutiefst erschüttert und überaus geneigt, sich für seine Schandtat „selbst zu richten“. Im Zuge der Tatortanalyse[84] finden sich Hinweise auf das Bemühen emotionaler Wiedergutmachung (sog. Undoing). Der Täter aus dem Umfeld des Opfers versucht durch seine Handlungsweise, die Tat symbolisch durch das Zudecken, Falten der Hände oder Reinigen des Opfers ungeschehen zu machen[85]. Seine Ergreifung lässt in der Regel nicht lange auf sich warten. Gott sei Dank kommt bei nicht wenigen Gewaltangriffen das (zumeist weibliche) Opfer mit dem Leben davon. Wenn die Frau Glück hat, lässt der Affekttäter von sich aus von ihr ab, weil er „zu Verstand kommt“ oder plötzlich doch Mitleid empfindet[86]. Vor allem Würge- und Drosselvorgänge[87] werden ohne äußeren Zwang abgebrochen. Dann stellt sich die Frage des strafbefreienden Rücktritts[88]. Einigen Frauen gelingt die Flucht erst durch List oder massive Gegenwehr, andere überleben, weil Nachbarn oder Unbeteiligte dazwischentreten. Die Intensivmedizin tut ein Übriges. Oft hat es zuvor Phasen der Trennungen und Versöhnungen gegeben, des Bedrohens und des Verzeihens. Dann vielleicht die ersten Handgreiflichkeiten, schließlich Morddrohungen.

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Abgesehen von der Rücktritts-Problematik werfen Affektdelikte dieser Kategorie immer auch die Frage nach der Schuldform (Verletzungsvorsatz/Tötungsvorsatz[89]) und der Schuldfähigkeit[90] des Täters auf. Die Abläufe ähneln sich auf frappierende Weise. Häufig spielt sich das Tatgeschehen in den eigenen vier Wänden ab. Die Ermittlungen kommen zumeist dadurch in Gang, dass Nachbarn die Polizei herbeirufen, nachdem sie aus der betreffenden Wohnung verdächtige Geräusche oder gar Hilferufe wahrgenommen haben. Der Täter verweilt womöglich noch am Tatort und lässt sich widerstandslos festnehmen.

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Affekttäter kommen aus allen Bevölkerungsschichten. Arbeiter und Angestellte, aber auch Ingenieure, Ärzte, Studienräte und sogar Pastoren haben sich schon auf der Anklagebank wiedergefunden, nachdem sie ihre Geliebte bzw. Ehefrau getötet oder dies zumindest versucht haben. Die „verhängnisvolle Affäre“, die einen Seitensprung zum Albtraum werden lässt, bis das Fass überläuft und ein seriöser Anwalt zum „Mörder“ wird, ist kein lebensfernes Konstrukt. Vor Jahren musste sich das Aachener SchwurG mit der Totschlagsanklage gegen einen Chefarzt befassen, weil er eine Krankenschwester seiner Krebsstation erstochen hatte. Zu ihr hatte er lange Zeit eine außereheliche Beziehung unterhalten, bis ihr Drängen und Fordern, sich von Ehefrau und Kindern zu trennen, immer extremere Züge annahm. Erst ein demonstrativ zur Schau getragener Parasuizid, dann anonyme Briefe an die Ehefrau. Schließlich die Drohung, ihn durch Indiskretionen beruflich zu ruinieren. Seinen herbeigeführten Rauswurf als Arzt bezahlte die Unglückliche mit ihrem Leben. Außer sich, drang der Onkologe nachts durch ein winziges Toilettenfenster in ihre Wohnung ein und erstach die junge Frau mit einem Küchenmesser. Anschließend lenkte er nach stundenlanger Irrfahrt seinen Pkw gegen einen Brückenpfeiler. Wie durch ein Wunder überlebte er diesen „Unfall“ schwerverletzt. Natürlich können auch Frauen im Affekt töten, wie jedermann aus der Vita der Schauspielerin Ingrid van Bergen weiß, die 1977 „rasend vor Eifersucht“ ihren zwölf Jahre jüngeren Lebensgefährten erschoss.

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„Gängig“ ist auch das Erschießen[91] oder Erstechen[92] der geliebten (oder auch verhassten) Person auf offener Szene. Es sind insbesondere eifersüchtige Männer, die, nachdem sie verlassen worden sind, ihrer Ex-Partnerin unter hochgradiger affektiver Anspannung auflauern oder sie am Arbeitsplatz überraschen, „zur Rede stellen“ und vor den Augen der Arbeitskollegen töten. Nach anschließender Flucht, auf der der Täter womöglich zunächst ziellos herumirrt, stellt er sich schließlich selbst der Polizei. Für die Verteidigung gilt es dann, den auf Eifersucht oder planvollen Waffeneinsatz gestützten Mordvorwurf abzuwehren und die schuldvermindernden Elemente des Affekts sichtbar zu machen. Erstaunlich oft wird die Polizei durch den Täter selbst zum Tatort gerufen. Oder er bittet Dritte, die Polizei oder Feuerwehr zu alarmieren, um dem Opfer ärztliche Hilfe zu leisten. Hier liegt es besonders nahe, den Tötungsvorsatz in Zweifel zu ziehen[93].

Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren

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