Читать книгу Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren - Steffen Stern - Страница 37
e) Unvollendete oder misslungene Mitnahmesuizide
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Tagtäglich berichten die Medien von tödlichen „Familiendramen“, bei denen der Vater, bevor er sich das Leben nahm, die gesamte Familie ausgelöscht hat. Oder der Sohn hat seine Eltern getötet, die Mutter ihre Kinder. Von einem tödlichen „Beziehungsdrama“ oder „Scheidungsdrama“ ist die Rede, wenn der verlassene Partner seine Expartnerin mit sich in den Tod reißt. So wie im vorerwähnten Fall der verzweifelten Frau aus Volmarstein, die vergeblich versucht hatte, gemeinsam mit ihrem Sohn aus dem Leben zu scheiden[176], stehen immer wieder Väter oder Mütter vor Gericht, die ihr eigenes Kind getötet haben oder töten wollten und anschließend mit dem Versuch gescheitert sind oder nicht mehr die Kraft hatten, sich selbst das Leben zu nehmen[177]. So erging es dem damals 50-jährigen Angeklagten, der im März 2001 seine Ehefrau und die beiden gemeinsamen, neun und fünf Jahre alten Söhne getötet hatte. Anschließend fuhr er zur Nürnberger Burg und stürzte sich in die Tiefe, um auch seinem Leben ein Ende zu bereiten. Er überlebte schwer verletzt. Zur Tat hatte er sich entschlossen, nachdem seine Ehefrau wenige Tage zuvor angekündigt hatte, ihn und die Kinder zu verlassen, weil sie eine neue Liebesbeziehung eingegangen war. Ein Leben ohne intakte Familie erschien dem Angeklagten nicht lebenswert. Die Kinder tötete er, weil diese nicht ohne Eltern aufwachsen sollten. Bei der Tatausführung machte sich der Angeklagte zunutze, dass seine Opfer schliefen. Das LG Nürnberg-Fürth hat den Angeklagten wegen Mordes in drei Fällen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Es sah bezüglich aller Tatopfer das Mordmerkmal der Heimtücke als gegeben an. Der BGH hat die Revision des Angeklagten verworfen[178].
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Das Urteil wirft Fragen auf: Bei entsprechenden Konstellationen ist immer an eine De- oder Exkulpation des Täters aus dem Blickwinkel des „erweiterten Suizids“ zu denken. Mit dem Begriff des erweiterten Suizids wird in der Psychiatrie die Mitnahme naher Familienangehöriger (oder auch Dritter) in das eigene suizidale Geschehen gekennzeichnet. Dem Täter muss es primär um die Beendigung des eigenen Lebens gehen, während die Mitnahmeabsicht dem untergeordnet („sekundär)“ und aus der eigenen Suizidalität ableitbar sein muss[179]. Namhafte Stimmen verlangen darüber hinaus altruistische Beweggründe[180], also die Vorstellung, zum Besten des Opfers zu handeln. Im Mittelpunkt eines sich gegen den überlebenden Täter geführten Strafprozesses steht regelmäßig die Psychosituation des Täters: Leidet er an einer psychotischen Erkrankung? Liegt vielleicht „nur“ eine schwere neurotische Fehlentwicklung oder eine schwere Persönlichkeitsstörung vor? Sodann ist nach Anzeichen eines präsuizidalen Syndroms[181] Ausschau zu halten, das drei Merkmale umfasst, die einer ernstgemeinten Suizidhandlung vorausgehen: Der Täter erlebt vor dem Hintergrund des eigenen Denkens oder Verhaltens (Depression, Kontaktstörung) oder infolge realer äußerer Faktoren (Isolation, Vereinsamung, Arbeitslosigkeit, Verluste, Krankheit) eine scheinbar zunehmend ausweglose Lage, bis letztlich nur der Suizid als Möglichkeit bleibt (Einengung). Es findet sich eine verstärkte und gleichzeitig gehemmte Aggression, die sich früher oder später gegen den Betroffenen selbst richtet (Aggressionsumkehr). Das Gefühl der Überforderung bewirkt eine Flucht in die Irrealität. Der Betroffene errichtet eine Scheinwelt, in der Gedanken zunehmend um Tod und Suizid kreisen (Suizidphantasien).
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Waren der Tat – möglichst objektivierbar – schwere Belastungen oder Konfliktsituationen vorausgegangen, die zu einer Einengung geführt haben könnten? Hier kann dem Täter in Bezug auf das Mordmerkmal der Heimtücke das zur Tatbestandsverwirklichung erforderliche Ausnutzungsbewusstsein gefehlt haben[182]. Und auch die drohende Feststellung der besonderen Schuldschwere würde im Falle nur eingeschränkter Schuldfähigkeit womöglich unterbleiben[183].
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Spektakulär war der vor dem LG Göttingen verhandelte Fall des damals 22 Jahre alten Marc D., der im Juli 1990 seine sieben Monate alte Tochter mit Benzin übergoss und verbrannte, nachdem ihm die junge Kindesmutter endgültig die Tür gewiesen hatte[184]. Er litt zur Tatzeit infolge der andauernden Querelen unter einer ausgeprägten Depression, hatte vorgehabt, erst seine kleine Tochter und dann sich selbst umzubringen. Die Psycho-Gutachter hatten ihn zunächst für uneingeschränkt schuldfähig erklärt. Sie zweifelten seine Darstellung an, er habe schon vor der Tat ein Seil beschafft, das er an den Mast einer Überlandleitung geknüpft habe, um sich daran aufzuhängen. Als die Verteidigung, den Ortsbeschreibungen des Mandanten folgend, das noch an dem Mast hängende Seilende aufspürte und in der Hauptverhandlung – thematisch gut vorbereitet – die Gutachter „in die Zange nahm“, mussten diese ihre Einschätzung korrigieren und die Voraussetzungen des § 21 StGB bejahen. Die authentische Mitschrift des Befragungsdialogs ist auszugsweise in Teil 20 A abgedruckt[185]. Das sehr maßvolle Urteil: 11 Jahre Freiheitsstrafe wegen Totschlags.