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d) Kindestötung durch die Mutter nach der Geburt

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Der 1998 weggefallene § 217 a.F. StGB privilegierte Mütter, die ihr nichteheliches Kind in oder unmittelbar nach der Geburt töteten[155]. Die Vorschrift sollte der psychischen Zwangslage der Mutter eines unehelich geborenen Kindes Rechnung tragen. Nachdem sich unsere Gesellschaft längst an „Ehen ohne Trauschein“ und alleinerziehende ledige Mütter gewöhnt hat, findet auch die Unehelichkeit eines Kindes kaum noch Beachtung. Umso schockierender sind spektakuläre Babyleichenfunde aus der jüngeren Vergangenheit[156]: Verscharrt in Blumenkästen auf dem Balkon wurden im Sommer 2005 in der brandenburgischen Ortschaft Brieskow-Finkenheerd die Babyleichen von 7 Mädchen und 2 Jungen gefunden, die zwischen 1988 und 1998 zur Welt gebracht worden waren[157]. Die – voll schuldfähige – Mutter wurde rechtskräftig wegen 8-fachen Totschlags zu 15 Jahren Haft verurteilt, weil sie ihre Neugeborenen unversorgt sterben ließ[158]. Der Erwerber eines Einfamilienhauses in Thörey bei Arnstadt (Thür.) stieß im Frühjahr 2007 beim Entrümpeln auf 3 Babyleichen. Die 21-jährige Mutter, eine ehemalige Mieterin, hatte die Kinder, die von drei verschiedenen Ex-Freunden der Frau stammten, im Alter von 16, 17 und 19 Jahren zur Welt gebracht und die Leichen versteckt[159]. Im November 2010 hat das LG Münster im Revisionsprozess[160] um die 3 getöteten Babys aus dem sauerländischen Wenden die Kindesmutter wegen zweifachen Totschlags – auch hier war ein Todesfall bereits verjährt – unter Zubilligung verminderter Schuldfähigkeit zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt[161]. Ende 2007 entdeckte die Polizei Plauen 3 in einer Wohnung versteckte Kindesleichen[162]. Die zerfallenen, teilweise skelettierten Überreste von 4 Säuglingen, eingewickelt in Plastikfolie und verborgen in einer Schublade, fand die Berliner Polizei im Herbst 2009 in der Wohnung einer 46-jährigen Selbstmörderin[163].

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So spektakulär diese Einzelfälle sind, so selten kommen sie allerdings in der Strafverteidigerpraxis vor. Die Feststellung der Mutterschaft ist heute dank DNA-Technik [164] unproblematisch. Aber ist in Anbetracht des Zeitablaufs noch sicher feststellbar, ob das Kind jemals gelebt hat?[165] Wenn ja, wann, wie und durch wessen Hand ist es zu Tode gekommen? Dann die Frage nach dem Tatmotiv. War der Erstickungstod des Säuglings ein Unglücksfall oder ein eiskalter Mord, weil das Kind die Lebensplanung der Kindesmutter durchkreuzte?[166] Lag bei der Kindesmutter eine akute geistig-seelische Störung vor? Um festzustellen, ob und ggf. welche Auswirkungen das Gefühl permanenter Überforderung oder psychische Krankheiten gehabt haben, nimmt die Schuldfähigkeitsbegutachtung der Täterin [167]in aller Regel breiten Raum ein.

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War es in den vorerwähnten Fällen nur einem Zufall zu verdanken, dass die Kindestötungen überhaupt ans Licht kamen, begegnen uns in der Praxis auch Neonatizide, die in aller Öffentlichkeit vor den Augen Dritter stattfinden und in aller Regel zeitnah zur Festnahme der psychisch gestörten Kindesmutter führen oder mit dem Freitod der suizidalen Mutter enden. Im März 2007 warf eine junge Mutter (26) in Hamburg ihr Neugeborenes aus dem Fenster eines Hochhauses. Das LG Hamburg erkannte auf Totschlag im minder schweren Fall und verhängte eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten[168]. Im August 2009 warf eine junge Frau in Pforzheim ihr 2 Monate altes Baby und ihren 4-jährigen Sohn vom Balkon eines Hochhauses, bevor sie sich dann selbst in den Tod stürzte. Wie später bekannt wurde, war sie seit Langem schwer psychisch krank[169]. Eine 29 Jahre alte Studentin musste sich Anfang 2009 vor dem LG in Moabit verantworten, weil sie knapp ein Jahr zuvor ihre 2 Monate alte Tochter vom Balkon ihrer im dritten Stock gelegenen Wohnung geworfen haben soll[170]. Das Baby hatte den Sturz aus sieben Metern Höhe mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma sowie inneren Verletzungen überlebt. Die Frau wurde für schuldunfähig erklärt. Gleichzeitig wurde die Unterbringung der Studentin in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik angeordnet. Nach Überzeugung des Gerichts hatte die Frau zur Tatzeit unter einer schweren Psychose gelitten[171]. Mit zweieinhalb Jahren Haft und der Unterbringung in der Psychiatrie endete im Juni 2010 das Verfahren gegen eine 35-jährige Frau aus Volmarstein, die ihren Sohn von einem Balkon geworfen hatte und hinterher gesprungen war. Der Junge blieb fast völlig unverletzt. Das Hagener Landgericht wertete ihre Tat als versuchten Totschlag – begangen im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit[172].

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Auch in Göttingen hatte vor knapp 10 Jahren eine junge Mutter ihr erst 10 Tage altes Baby aus einer der oberen Etagen der Wöchnerinnen-Station des Uni-Klinikums geworfen[173]. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt, nachdem der psychiatrische Sachverständige aufgrund einer diagnostizierten schweren psychotischen Wochenbettdepression, die behandelbar war und Wiederholungen nicht befürchten ließ, § 20 StGB nicht sicher ausschließen konnte[174]. US-Forscher haben durch Befragung junger Eltern herausgefunden, dass 14 % der Mütter nach der Geburt eines Kindes an mittelschweren oder schweren Depressionen litten[175].

Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren

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