Читать книгу Der NSU Prozess - Tanjev Schultz - Страница 39

Tag 22

Оглавление

11. Juli 2013

Manfred Götzl, Richter. Josef Wilfling, 66, Kriminaloberrat a. D. aus München. Er leitete die Ermittlungen im Fall Habil Kılıç, der am 29. August 2001 in seinem Laden in München ermordet wurde. Pinar Kılıç, 51, Witwe des Mordopfers Habil Kılıç. Mehmet Daimagüler, Yavuz Narin, Jens Rabe, Anwälte der Nebenklage.

Götzl Es geht heute um die Tat zum Nachteil von Habil Kılıç.

Wilfling Ich wurde kurz nach elf Uhr am 29. August 2001 verständigt. Ich war Leiter der Mordkommission 5. Herr Kılıç war hinter seiner Ladentheke in einer Blutlache aufgefunden worden. Die Tatzeit konnte ziemlich genau eingegrenzt werden durch Zeugen und Telefonate. Um 10.30 Uhr war noch ein Kunde dort, zwei Minuten später, um 10.32 Uhr, erfolgte ein Anruf eines Arbeitskollegen vom Großmarkt. Er war um 10.35 Uhr beendet. Danach muss es wohl passiert sein: Etwa um 10.40 Uhr betrat eine Kundin mit zwei Kindern den Laden, und die fand dann Herrn Kılıç vor. Sie rief aus dem Laden, und in dem Moment kam der Postbote daher, der war ziemlich aufgeregt. Um 10.53 Uhr ging ein Anruf bei der Polizei ein: Zwei Damen von gegenüber berichteten unabhängig voneinander, dass sie einen dunklen Mercedes gesehen hatten. Ein Mann sei aus dem Laden herausgestürmt und mit quietschenden Reifen davongefahren. Es war auch von einem dunkelhäutigen Mann die Rede. Später hat sich herausgestellt, dass die beiden gar nichts gesehen haben. Die eine Frau hatte ein Alkoholproblem, und die andere hat es einfach nacherzählt. Ein anderer Zeuge hat einen angeblichen Türken gesehen, mit einem anderen Fahrzeug. Wir haben über 300 Fahrzeuge des Typs überprüft, es gab keine Tatrelevanz. Dann gab es noch einen Hinweis von zwei Damen, die wiesen uns auf zwei Fahrradfahrer hin. Eine von ihnen hat um 9.30 Uhr zwei dunkel gekleidete Männer mit Rädern beobachtet; die zweite Zeugin sah gegen 10.45 Uhr zwei junge Radler, die unterhalb ihres Balkons in Richtung Tatort fuhren. Erwähnen muss ich noch, dass eine Beschreibung der Radfahrer nicht vorgelegen hat, die Zeuginnen sprachen lediglich von modernen Rädern und jungen Männern, die wie Kurierfahrer gewirkt haben. Die Radfahrer haben wir damals als Zeugen gesucht.

Götzl Was können Sie uns über die Auffindesituation sagen?

Wilfling Nach unserer Einschätzung war das eine absolut professionelle Hinrichtung: Herr Kılıç wurde von zwei Kopfschüssen getötet. Der erste Schuss traf ihn, als er hinter der Verkaufstheke stand, drang in der oberen Wangenregion ein und dann am Ohr wieder aus. Der zweite Schuss wurde abgegeben, als er schon im Fallen war oder schon lag. Wir haben auch ein Stück Plastik gefunden, eventuell wurde der Schuss durch eine Tüte abgegeben. Leider haben wir keine DNA-Spuren gefunden und auch sonst keine Hinweise auf die Täter.

Einen Raubmord haben wir ausgeschlossen. Die Geldbörse steckte noch in der Tasche, die Kasse war bestückt. (Fotos vom Tatort werden auf zwei Wände im Gericht projiziert.) Der Laden befindet sich in der Nähe vom Innsbrucker Ring; in der Bad-Schachener-Straße. Es ist ein Eckhaus; daneben ist eine Baulücke, dahinter befinden sich Garagen, dahinter führt eine Treppe zu einer Wohnanlage mit Wohnblöcken. Dort wohnten Zeuginnen, die die Radler sahen.

Im Sommer stand die Eingangstür immer offen. Und zur Tatzeit war es warm. Nur einige Meter von dem Laden entfernt befindet sich eine Polizeistation in der Bad-Schachener-Straße. Da waren auch viele Polizisten, die regelmäßig in dem Geschäft eingekauft haben. (Ein Bild mit Melonen auf einem Tisch wird eingeblendet.) Was diese Melonen jetzt bedeuten sollen, weiß ich nicht. (Es folgen Fotos von der Leiche.) Diese Bilder sind schon nach der Veränderung durch den Notarzt entstanden, das Bein ist schon etwas angewinkelt. Um die Leiche herum war eine riesige Blutlache. (Dann werden Fotos vom Inneren des Ladens eingeblendet.) Es war ein ganz normales Warenangebot. Es war ordentlich, es war sauber. Es wurde in dem Geschäft wirklich jeder Quadratzentimeter nach Spuren abgesucht, auch die Obstkisten. Auch der Inhalt der Geschirrspülmaschine. Keinerlei Auffälligkeiten. Wir haben natürlich auch einen Blick in die Registrierkasse geworfen – es war alles ordentlich, nichts durchwühlt. Es waren 216 Mark in der Kasse.

Anwalt Narin Herr Zeuge, haben Sie sich auch über den Nürnberger Fall Şimşek informiert?

Wilfling Ja, aber nicht in der Tiefe. Der Fall war immer wieder Gegenstand von Besprechungen. Das war ja der erste Fall der Serie.

Anwalt Narin War Ihnen bekannt, dass in Nürnberg ein Zeuge gesagt hat, er habe zwei Männer in Radfahrerkleidung gesehen?

Wilfling Das ist mir heute nicht mehr erinnerlich, ob ich das damals wusste.

Anwalt Narin Sie erwähnten eingangs, dass ein Dunkelhäutiger als Tatverdächtiger angesehen wurde und die Radfahrer als Zeugen. Wie kamen Sie dazu?

Wilfling Sie hätten das, glaube ich, auch nicht anders eingeordnet. Wenn da zwei Zeugen unabhängig voneinander sagen, da sei ein Mann rausgelaufen und mit quietschenden Reifen davongefahren. Dagegen hat die Zeugin mit den Radfahrern nur gesagt, dass sie da Radfahrer gesehen hatte. Wir haben ja auch ziemlich schnell festgestellt, dass wir einem Fake aufgesessen sind.

Anwalt Rabe Was wurde konkret unternommen, um die Radfahrer zu überprüfen?

Wilfling Es wurde eine Sofortfahndung eingeleitet. Die Zeuginnen konnten keine Beschreibung abgeben. Aus der damaligen Sicht waren die Radfahrer für uns Zeugen. Es gab ja keine Anhaltspunkte, dass es die Täter waren. Heute wissen wir es natürlich besser.

Anwalt Rabe Es hätten ja auch wichtige Zeugen sein können.

Wilfling Wir haben sie ja auch gesucht.

Anwalt Daimagüler Sie haben die Radfahrer gesucht?

Wilfling Ja.

Anwalt Daimagüler Aber es hat sich niemand gemeldet?

Wilfling Das ist aus heutiger Sicht verständlich.

Anwalt Daimagüler Hat das Ihre Ansicht über die Radfahrer nicht verändert?

Wilfling Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass das die Täter waren. Es wird immer wieder der Fehler gemacht, dass man von heute auf damals schließt. Da gab es Hunderte von Hinweisen. Trotzdem haben wir die Fahrradfahrer in die Fahndung eingebunden. Wir haben etwa fünfzig Zeugen vernommen im Fall Kılıç, circa vierzig davon Türken. Alle Hinweise, die kamen, gingen in Richtung organisierte Kriminalität, PKK, Graue Wölfe. Niemand vermutete Rechtsradikale. Der Modus der Tat entsprach nicht dem, was man sonst von Neonazis kannte, also Ausländer durch die Straße jagen, zu Tode prügeln. Und jetzt soll man mal nicht so tun, als ob es keine türkische Drogenmafia gibt. Im Fall Kılıç haben wir allerdings überhaupt keine Hinweise auf so was gefunden. Der Herr Kılıç war ein kreuzbraver, fleißiger, humorvoller Mensch.

(Der Zeuge Wilfling wird entlassen, zwei weitere Ermittler werden befragt. Dann betritt Pinar Kılıç den Gerichtssaal.)

Götzl Frau Kılıç, bitte nehmen Sie Platz. Zunächst zu Ihren Personalien.

Kılıç Pinar, Kılıç, 51 Jahre. Ich bin verheiratet mit Kılıç. Das ist mein Mann.

Götzl Ja …, das ist schon klar.

Kılıç Und diese Dame, was hat sie gemacht?

(Sie schaut Zschäpe an.)

Götzl Wir brauchen zunächst Ihre Adresse.

Kılıç Das will ich nicht öffentlich sagen. Ich kann Ihnen meinen Ausweis zeigen.

Götzl Erzählen Sie doch zunächst von Ihrem Leben, Ihrer Familie.

Kılıç Fragen Sie diese Frau … (Sie deutet auf Zschäpe.)

Götzl Was war Herr Kılıç für ein Mann?

Kılıç Er war ein sehr guter Mensch, ein Familienvater. Er war ein anständiger Mann. Was soll ich dann noch erklären? Ich will, dass diese Frau ihre Strafe bekommt.

Götzl Hier ist eine Gelegenheit, dass Sie das Leben Ihres Mannes schildern.

Kılıç Ich sag, das ist für mich ein guter Mensch gewesen.

Götzl Was hat er damals gemacht, wie war seine Lebenssituation?

Kılıç (trotzig) Was soll ich da noch sagen?

Götzl Wenn ich Sie höflich frage, erwarte ich auch höfliche Antworten.

Kılıç Jahrelang wurde ich wie eine Verdächtige behandelt. Im Laden war ein Blutbad drin, das mussten wir selber sauber machen.

Götzl Wie ist denn nach der Tötung Ihres Mannes das Leben weitergegangen?

Kılıç Wie soll es sein?

Der NSU Prozess

Подняться наверх