Читать книгу Der NSU Prozess - Tanjev Schultz - Страница 54

Tag 37

Оглавление

23. September 2013

Manfred Götzl, Richter. Thorsten H., 48, Kriminalbeamter beim LKA Hamburg. Er war Mitglied der Mordkommission, die den Mord am türkischen Gemüsehändler Süleyman Taşköprü am 27. Juni 2001 in Hamburg-Bahrenfeld untersuchte. Oliver Peschel, 49, Rechtsmediziner an der Universität München. Er hat die Leiche von Süleyman Taşköprü untersucht und sagte auch an den Tagen 30, 232, 263, und 312 aus. Sonja S., 39, Kriminalbeamtin aus Hamburg. Ali Taşköprü, 67, Vater des Mordopfers. Asli I., 36, Hausfrau aus Hamburg. Olaf Klemke, Verteidiger des Angeklagten Ralf Wohlleben. Gül Pinar, Andreas Thiel, Anwälte der Nebenklage.

Thorsten H. Ich war Mitglied der diensthabenden Mordbereitschaft. Unser Mordbereitschaftsleiter hat die Information erhalten, dass in einem Gemüseladen eine männliche Person mit Schussverletzungen aufgefunden worden sei. Eine Viertelstunde später wurde gemeldet, das Opfer sei verstorben. Als ich am Tatort eintraf, untersuchte ich das Gemüsegeschäft, das Teil einer Ladenzeile unter einem Flachdach war. Auf der linken Seite befand sich der Verkaufstresen, und auf der Freifläche lag der tote Süleyman Taşköprü. Dahinter war ein kleiner Büro- und Aufenthaltsraum sowie ein Kellerraum. Der Leichnam war mit einer Wolldecke zugedeckt. Auf dem Boden fanden wir massive Blut- und Hirnmasseanhaftungen. Wie sich herausstellte, hatte der Vater den Toten gefunden. Die Rettungskräfte hatten versucht, ihn zu reanimieren. Wir fanden zwei Patronenhülsen bei den Eierkartons, aber keine verwertbaren daktyloskopischen Spuren. Das Opfer wies zwei Einschussstellen am Hinterhaupt auf. In der Wange des Opfers war unter der Haut ein Fremdkörper fühlbar. Auf der Gegenseite war die Einschussöffnung.

Götzl Haben Sie auch Fußspuren gesichert?

Thorsten H. Im Blutbereich waren Fußspuren, aber so verwischt, dass kein Profil erkennbar war.

Götzl Was hat die Zeugenbefragung ergeben?

Thorsten H. Gegen Viertel vor elf sollen Vater und Sohn gemeinsam im Laden gewesen sein. Der Vater sagte, er sei dann zu einem nahen Geschäft gegangen, um Oliven zu besorgen. Er war eine halbe Stunde weg. Als er seinen Sohn am Boden liegend in seinem Blut fand, rannte er zur Fleischerei und ließ einen Rettungssanitäter alarmieren. Eine Zeugin gab an, sie habe Streit gehört, ein Wortgefecht in einer Fremdsprache. Der Vater des Toten sagte, ihm seien zwei Männer aufgefallen, die gegenüber dem Laden standen und dann in südlicher Richtung davongingen.

(Dann lässt Götzl Lichtbilder vom Tatort an zwei Wände des Saals projizieren. Zu sehen ist ein Laden mit holzgetäfelten Wänden und anspruchsvollem Warenangebot. Man sieht rot-weiße Bodenfliesen, eine Kühltheke.)

Götzl Es werden nun Bilder direkt vom Tatort gezeigt. Ein Hinweis für die Angehörigen: Es ist Blut zu sehen, aber nicht das Opfer. Aber vielleicht möchten Sie sich das ersparen.

(Die Bilder zeigen Blutlachen auf dem Boden, an Eierkartons, die Brille des Opfers, die ins Brotregal geschleudert wurde, und eine grau-rote Decke, unter der der Tote liegt.)

Götzl Haben denn Geld oder Wertgegenstände am Tatort gefehlt?

Thorsten H. Wir konnten nichts feststellen, was abhandengekommen wäre.

Anwalt Thiel Direkt am ersten Tag wurde der Vater vernommen. Hat man Ihnen gesagt, dass er zwei Personen beschrieben hat?

Thorsten H. Das wurde mir erst am nächsten Tag berichtet in einer Besprechung. Wir haben noch geredet, ob wir noch Phantombilder machen – aber das fiel in den Aufgabenbereich des Mordbereitschaftsleiters.

Anwalt Thiel Der Vater des Ermordeten Süleyman Taşköprü hat zwei Männer gesehen, die den Laden verließen. Hat er von deutschen Männern gesprochen?

Thorsten H. Ich erinnere mich, dass wir nachgefragt haben, ob es Ausländer waren, und dann hieß es: eher Deutsche.

Anwalt Thiel Welche Dienststellen der Polizei wurden an den Ermittlungen beteiligt?

Thorsten H. Der Mordbereitschaftsleiter fasste die Erkenntnisse zusammen und leitete sie an andere Dienststellen weiter.

Anwalt Thiel Erinnern Sie sich an eigene Aktivitäten?

Thorsten H. Ich erinnere mich an ein Telefonat mit dem Kollegen Albert V. in Nürnberg, wegen des ähnlichen Modus Operandi und ähnlicher Tatörtlichkeiten wie bei den Nürnberger Taten.

Anwalt Thiel Wurde auch die politische Abteilung des LKA zurate gezogen? Es standen da ja zwei deutsche Männer.

Thorsten H. In der Regel geht das auch an die organisierte Kriminalität und den Staatsschutz im LKA.

Anwalt Thiel Haben Sie eine Rückmeldung erhalten?

Thorsten H. Nein, überhaupt nicht.

Anwalt Thiel Hat sich das Landesamt für Verfassungsschutz mit Ihnen in Verbindung gesetzt?

Thorsten H. Nein, bis zum heutigen Tage nicht.

Anwalt Thiel Hinterher ist man immer etwas klüger. Aber wer hat denn die Spur mit den zwei deutschen Männern weiter ermittelt? Sodass man ins rechte Spektrum gekommen wäre?

Thorsten H. Es gab keine Anhaltspunkte für eine Spur in Richtung Tätergruppe Rechtsextremismus. Die war dann erledigt, die Spur.

Anwalt Thiel Hat man später noch einmal Nachermittlungen getätigt?

Thorsten H. Das kann ich nicht sagen. Die Ermittlung wurde später völlig von der Abteilung organisierte Kriminalität übernommen. Die Spur war abgeschlossen, es gab keine Anhaltspunkte für eine Spur Richtung Tätergruppe Rechtsextremismus.

(Anschließend folgt der nächste Zeuge, der Rechtsmediziner und Gutachter Oliver Peschel.)

Peschel An der linken Hand von Herrn Taşköprü konnten Schmauchspuren nachgewiesen werden. Außerdem fanden wir drei Kopfschussverletzungen – einen Querschuss durchs Gesicht und zwei Hinterhauptschüsse. Einer davon war ein aufgesetzter Schuss auf das Hinterhaupt. Todesursache war eine zentrale Hirnlähmung. Es wurden zwei Waffen verwendet. Bei der einen Waffe gibt es keinen Hinweis darauf, dass ein schützendes Behältnis um die Waffe verwendet wurde. Bei der anderen käme eine Verpackung, etwa eine Plastiktüte, durchaus in Betracht. Die Schmauchspuren am Hinterkopf sprechen gegen die Verwendung eines Schalldämpfers. Die Schmauchspuren an der linken Hand des Opfers könnten mit einer Abwehrreaktion in Richtung der Waffe erklärt werden. Aus all dem ergab sich für uns: Zunächst erfolgte ein Schuss durch die linke Wange und am Schluss ein aufgesetzter Schuss in den Hinterkopf, als das Opfer schon am Boden lag.

(Es folgt die Zeugin Sonja S., Kripo-Beamtin aus Hamburg.)

Sonja S. Das Ladengeschäft stand nach der Tötung des Süleyman Taşköprü jahrelang leer. Vor dem Laden gab es bis 2007 als so eine Art Gedenkstätte für das Opfer.

Götzl Was haben Sie über die Eltern des Getöteten in Erinnerung?

Sonja S. Wir haben die Familie regelmäßig aufgesucht. Wir haben zusammen Tee getrunken. Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis. Den Eltern ging es körperlich und psychisch sehr schlecht, weil ihr Sohn erschossen worden war, aber auch weil wir die Täter nicht ermittelt haben.

Götzl Und wie war die Situation der Geschwister?

Sonja S. Ich hatte viel zu tun, mit der älteren der beiden Schwestern des Ermordeten. Sie hat oft gefragt: Gibt es nicht noch mehr Möglichkeiten? Warum kommen Sie nicht weiter? Sie war sehr kooperativ und aufgeschlossen. Zur jüngeren Schwester kann ich nicht so viel sagen. Sie war eher still.

Anwältin Pinar Wie lang haben Sie an dem Fall mitgearbeitet?

Sonja S. Ich war anderthalb Jahre in der Soko und habe diverse Spuren bearbeitet.

Anwältin Pinar Wer hat entschieden, welcher Spur nachgegangen werden soll?

Sonja S. Der Soko-Chef.

Anwältin Pinar Der Vater hat zwei Deutsche gesehen. Wer ist dieser Spur nachgegangen?

Sonja S. Ich kann es nicht sagen, ich war es nicht. Auch das könnte der damalige Soko-Chef beantworten.

(Pause. Der Angeklagte André Eminger schlendert auf dem Vorplatz des Gerichts dicht an der Familie Taşköprü vorbei. Ein junger Mann aus der Familie will ihm nachsetzen. Aber der Anwalt und die Familie halten ihn ab. Der nächste Zeuge ist Ali Taşköprü, der Vater des Ermordeten. Er spricht türkisch, ein Dolmetscher übersetzt.)

Götzl Sind Sie mit den Angeklagten verwandt oder verschwägert?

Taşköprü Auf keinen Fall! (Fährt mit rauer, leiser Stimme fort.) Wir sind gemeinsam zur Markthalle gefahren und haben eingekauft. Wir hatten Zigarettensorten vergessen, ich bin die holen gegangen. In derselben Straße gab es einen Laden mit Oliven. Dort habe ich Oliven gekauft. Als ich zurückkam, habe ich hinter der Theke etwas Schwarzes gesehen. Ich hab gerufen: Mein Sohn, hast du hier etwas vergossen? Er hat mir keine Antwort gegeben. Da habe ich ihn gesehen. Ich habe seinen Kopf auf meinen Schoß genommen, er wollte mir etwas sagen, konnte aber nicht. Ich habe ihn im Gesicht berührt. Es kam ein Mädchen, um mir zu helfen. Später kam die Polizei, sie haben ihn von meinem Arm weggenommen und ihn auf den Boden gelegt.

Ich habe Leute gesehen, wie sie kurz davor aus dem Laden gegangen sind, aber ich dachte, es seien normale Kunden. Es war zwischen elf und zwölf Uhr.

Götzl Können Sie diese Leute näher beschreiben?

Taşköprü Ich weiß sicher, dass sie deutsche Staatsangehörige sind.

Götzl Alter, Kleidung, Größe?

Taşköprü Zwischen 25 und 35 Jahre alt, es waren junge Leute. Zwei bis drei.

Götzl Deutsche Staatsangehörige – woran machen Sie das fest?

Taşköprü Das Geschäft richtete sich an Deutsche. Es kamen immer Deutsche zum Einkaufen. Auch Türken und Studenten.

Mein Sohn war 31 Jahre alt, was wollten sie von ihm? Wir sind Menschen, die auf eigenen Füßen stehen. Wir lebten von unserem eigenen Geld, was wollten diese Leute von uns?

Götzl Wie lang war das Geschäft geöffnet?

Taşköprü Von sechs bis 21 Uhr abends.

Götzl Haben Sie sich abgewechselt?

Taşköprü Wir sind ein Familienbetrieb und haben uns abgewechselt. Süleyman, sein Bruder, alle zusammen.

Götzl Können Sie uns Ihre Familie vorstellen? Wer gehört dazu?

Taşköprü Ich hatte zwei Söhne, zwei Töchter, wir lebten gemeinsam. Süleyman hatte eine Tochter von seiner Freundin bekommen, die Tochter lebt auch heute noch mit uns zusammen. Sie ist jetzt 15 Jahre alt. Als ihr Vater gestorben ist, war sie zweieinhalb.

Götzl Wie war es für Sie nach dem Tod Ihres Sohnes?

Taşköprü Sie haben mir mein Herz abgerissen. Seine Tochter ist jetzt 15, sie lebt mit uns zusammen. Sie ist unsere Verbindung zum Leben, sie lässt uns am Leben bleiben. Sechs Jahre lang haben wir das Kind zur Therapie gebracht. Am meisten hat meine Frau darunter gelitten. Sie geriet in eine Situation, in der sie nicht mehr arbeiten konnte. Sie hatte Probleme mit dem Herzen und wurde operiert.

Götzl Wie ging es der Lebensgefährtin Ihres Sohns?

Taşköprü Wir haben keinen Kontakt mehr. Die Tochter hat aufgelegt, als sie angerufen hat. Wir haben ihr immer gesagt, rede mit ihr, das ist doch deine Mutter.

Götzl Gehen wir zurück zum Tattag. Wie lang hat es gedauert, bis Sie die Oliven geholt haben?

Taşköprü Ich war circa eine halbe Stunde bis 45 Minuten weg, in der gleichen Straße, und habe drei Packungen Oliven geholt. Wäre ich doch bloß nicht weggegangen!

Götzl Sie haben zwei Personen gesehen.

Taşköprü Ich weiß nicht, ob es Kunden oder Täter waren. Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich sie erwürgt.

Verteidiger Klemke Ist Ihnen etwas aufgefallen, was anders war als sonst?

Taşköprü Was hätte mir auffallen können, wenn ich meinen Sohn auf dem Boden liegen sehe? Meine Augen sahen nichts anderes als meinen Sohn. Er ist in meinen Armen gestorben, er lebte noch, als ich ihn auf den Schoß nahm, er lebte noch.

Götzl Vielen Dank, Herr Taşköprü. Nehmen Sie doch bitte wieder Platz.

(Die Zeugin Asli I. wird in den Gerichtssaal gerufen.)

Asli I. Ich habe meinen Sohn in den Kindergarten gebracht, dann war ich beim Einkaufen mit einer Freundin. Auf dem Rückweg habe ich Schreie gehört und bin rein in den Laden. Ich wohne da schon ein paar Jahre und sehe jetzt den erschossenen Menschen bei seinem Vater im Arm. (Sie weint.) Der Vater hat gerufen: Gott, komm zu Hilfe. Ich war ein paar Sekunden wie gelähmt.

Götzl Können Sie uns das Opfer beschreiben? Wie er sich verhalten hat?

Asli I. Ich kannte ihn nur vom Verkauf. Er war ein ruhiger, freundlicher Mensch. Ich kannte ihn nicht gut genug, aber er war ein Netter. Ich wusste, dass er Familienvater ist und Kinder hat. Ein ganz normaler Mensch halt.

Der NSU Prozess

Подняться наверх