Читать книгу Der NSU Prozess - Tanjev Schultz - Страница 58
Tag 41
Оглавление1. Oktober 2013
Manfred Götzl, Richter. İsmail Yozgat, 58, aus Kassel, Frührentner, Vater des Mordopfers Halit Yozgat. Emre E., 22, Auszubildender. Andreas Temme, 46, Ex-Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes. Temme sagte auch an den Tagen 63, 80, 106 und 214 aus.
(Der Zeuge İsmail Yozgat betritt den Gerichtssaal, begleitet von einem Dolmetscher, der seine Aussage übersetzt. Erstmals sitzt Verteidiger Wolfram Nahrath bei den Angeklagten. Er vertritt Ralf Wohllebens Anwältin Nicole Schneiders. Später im Prozess wird er Wohllebens dritter Pflichtverteidiger.)
Yozgat Ich begrüße Sie alle respektvoll. Ich bin İsmail Yozgat, der Vater des Märtyrers, der am 6. April 2006 durch zwei Schüsse in den Kopf erschossen wurde und in meinen Armen gestorben ist. Zunächst möchte ich mein herzliches Beileid den Angehörigen der zehn Märtyrer ausdrücken und ihnen Geduld wünschen. Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Vorsitzender, für das Interesse, das Sie uns gezeigt haben …
Götzl … jetzt muss ich Sie trotzdem unterbrechen. Sie sind Nebenkläger, aber auch Zeuge. Ich würde Sie bitten, mir den Tagesablauf am 6. April 2006 zu schildern und die Auffindesituation.
Yozgat Gut. Ich arbeitete im Internetcafé, mein Sohn kam gegen 15 Uhr rein, um mich abzulösen. Er sagte mir, dass seine Mutter draußen im Wagen auf mich wartet. Am nächsten Tag, am 7. April, hatte ich Geburtstag. Mein Sohn hatte meiner Frau Geld gegeben, damit sie für mich ein Geschenk kauft. Ich fuhr mit meiner Frau in die Stadt, sie hat für mich für 23 Euro eine Werkzeugkiste gekauft. Ich ließ meine Frau in der Stadt zurück. Als ich zurückkehrte, sah ich meinen Sohn in vollem Blut liegen. Am nächsten Tag habe ich mir meinen Geburtstag verboten – bis zu meinem Tode wird mein Geburtstag nicht mehr gefeiert. (Er holt tief Luft.) Am 8. April, ein Samstag, brachten wir den Leichnam meines Sohnes zur Beerdigung in die Türkei. Um 13 Uhr am Samstag habe ich mit meinen Händen meinen 21-jährigen Sohn ins Grab gelegt. (Er wird immer lauter.) Warum haben sie meinen Sohn getötet? Was hat er getan? Zehn Tage später kamen wir nach Kassel zurück. Ich hatte früher fünf Kinder, nun waren nur noch vier zurückgeblieben. (Seine Frau legt ihm von hinten beruhigend die Hand auf die Schulter.) Ich habe dann gesehen, dass das Zimmer meines Sohns versiegelt war. Ich konnte nicht einmal zum Andenken in sein Zimmer gehen. Als ob das noch nicht gereicht hat, wurden auch noch viele Gerüchte in die Welt gesetzt. Eines der Gerüchte war, dass im Zimmer meines Sohnes 40000 Euro gefunden worden sein sollen. (Wieder lauter.) Wir sind eine aufrichtige Familie. Von 2006 bis 2011 haben wir uns nicht vor das Haus getraut. Alle haben uns schief angeschaut. Immer wenn wir in die Stadt gingen, haben sie mich gefragt: Warum haben sie deinen Sohn getötet? Warum? Wegen Haschisch etwa oder wegen Heroin? Ist es die Mafia? (Pause.) Warum haben sie mein Lämmchen getötet? Nicht einmal in der Türkei haben meine Verwandten mit uns gesprochen. Ich konnte das alles nicht ertragen, deshalb erlitt ich einen Herzinfarkt. (Er unterbricht, trinkt aus einem Glas Wasser.)
Götzl Vielleicht, Herr Yozgat, kommen Sie noch mal zurück zu der Situation, als Sie Ihren Sohn aufgefunden haben. Was Sie da gesehen haben?
Yozgat Darf ich noch zwei Worte sagen?
Götzl Ja.
Yozgat Die Polizei hat Herrn Temme vernommen und eingesperrt, der während des Mordes im Internetcafé war. Dann kommt der Befehl von oben, und die Polizei hat Temme freigelassen. Ich habe vollen Respekt vor Herrn Götzl, aber mein Vertrauen in die Justiz ist gesunken. Jetzt komme ich zur Sache. Ich kam zur Ampel am Internetcafé, circa 200 Meter entfernt. Ich hatte mich verspätet. Um 17 Uhr sollte Halit zur Abendschule gehen, und ich wollte ihn ablösen. Immer wenn ich mich verspätete, wartete er normalerweise vor dem Laden. Es war aber niemand vor der Tür. Es gibt weiter vorne ein Teehaus. Dort saß ein Freund, aber mein Sohn war nicht am Tisch. Als ich ihn nicht dort sah, habe ich mir gedacht, vielleicht repariert er die Computer drinnen. Als ich hineinging, habe ich auf dem Tisch zwei rote Tropfen gesehen. Ich habe mir gedacht, vielleicht hat Halit Farbe verschüttet. Dann habe ich meinen Sohn dort liegen gesehen. Er lag auf dem Rücken. Ich habe ihn auf meinen Arm gelegt. (Steht auf. Schreit.) Er gab keine Antwort!
(Zschäpe starrt in ihren Laptop.)
Ich habe ihn langsam wieder auf den Boden gelegt und bin ins türkische Teehaus nebenan gelaufen und habe meinen Freunden dort gesagt: Meinem Sohn ist etwas zugestoßen. Danach brachte man mich aufs Polizeirevier. Das ist alles.
(Er tritt nach vorne an das Richterpult. Mit zitternder Hand malt er Positionen auf eine Skizze des Cafés.)
Götzl In der Akte heißt es, Ihr Sohn habe auf dem Bauch gelegen. Bitte überlegen Sie noch mal.
Yozgat Es kann ein Missverständnis sein. So lag er.
(Yozgat legt sich auf den Bauch, um zu zeigen, wie sein Sohn lag. Er liegt direkt vor dem Tisch, an dem Zschäpe sitzt. Pause. Der nächste Zeuge, Emre E., ein 22 Jahre alter Auszubildender, betritt den Gerichtssaal.)
Emre E. Gegen 17 oder 18 Uhr habe ich im Café Ego-Shooter gespielt und auf diversen Seiten gesurft. Auf einmal kam dieses dumpfe Geräusch. Das habe ich in Verbindung gebracht mit einem herabfallenden PC und mir nix dabei gedacht. Ein paar Minuten später habe ich das Brüllen gehört von Halits Vater: »Halit, mein Sohn!« Dann bin ich nach vorne gegangen und hab den Halit auf dem Boden liegen gesehen. Ich war ziemlich aufgeregt, bin mehrmals hin und her, hab versucht, Hilfe zu holen. Halit war wie ein großer Bruder für mich, ich habe mich gut mit ihm verstanden.
(Nach weiteren Zeugenbefragungen und der Mittagspause betritt Andreas Temme, ehemaliger Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, den Saal. Götzl belehrt ihn nach Paragraf 55 Strafprozessordnung, wonach ein Zeuge die Antwort auf Fragen verweigern darf, deren Beantwortung ihn der Gefahr einer Strafverfolgung aussetzen.)
Götzl Herr Temme, es geht uns um den Tod Halit Yozgats in einem Internetcafé in Kassel. Bitte berichten Sie, was Sie damals beobachtet haben.
Temme Ich bin an diesem Donnerstag nach Dienstschluss im Internetcafé angekommen und wollte in einem Chatportal nachsehen, ob Nachrichten für mich eingegangen waren. Ich kannte das Café schon länger. Herr Yozgat hat mir einen Platz zugewiesen. Ich hab mich an den PC gesetzt, mich eingeloggt und blieb etwa zehn Minuten im Chatportal. Dann hab ich mich wieder ausgeloggt und wollte vorne am Tresen zahlen. Weil ich Herrn Yozgat nicht gesehen habe, bin ich zur Tür raus, um nach ihm zu gucken. Da habe ich ihn auch nicht gesehen. Soweit ich mich erinnern kann, bin ich auch noch mal in den rückwartigen Raum. Da war er auch nicht. Und weil ich nach Hause wollte, habe ich dann den üblichen Preis, 50 Cent, auf den Tresen gelegt. Dann bin ich nach Hause gefahren. Am nächsten Tag, Freitag, hatte ich Urlaub. Von der Tat erfahren habe ich erst am Sonntag, aus einer örtlichen Zeitung. Ich war natürlich aufgewühlt und habe am Montagmorgen auf meine Stempelkarte geschaut, ob das an dem Tag war, als ich im Café war. Ich habe gesehen, dass ich am Mittwoch den Dienst früher beendet hatte. Ich bin daher dem Trugschluss erlegen, zu denken, dass ich 24 Stunden vor der Tat dort gewesen wäre.
Götzl Haben Sie daran gedacht, sich bei der Polizei zu melden?
Temme Mir war bewusst, oder es ist mir eigentlich später bewusst geworden, dass es falsch war, sich nicht zu melden. Aber ich hatte Angst, zum einen aus privaten Gründen, weil ich jung verheiratet war und das mit dem Chatten von mir nicht richtig war. Zum anderen hätte es auch dienstliche Nachteile haben können.
Götzl Inwiefern?
Temme In der Nähe des Cafés gab es ein Beobachtungsobjekt aus dem Bereich Islamismus. Mir war bewusst, dass es sich für einen V-Mann-Führer nicht gehört, sich in der Nähe dieses Objekts aufzuhalten.
Götzl Ich muss noch mal nachfragen: Welche dienstlichen Nachteile fürchteten Sie denn?
Temme (stammelt) Ich dachte, dass es nicht gut angesehen würde … Die Einschätzung war subjektiv von mir. Aus heutiger Sicht habe ich völlig falsch gehandelt. Mich hat erleichtert, dass ich überhaupt keine Wahrnehmung gemacht habe in dem Café, die mir seltsam vorkam. Auch dass ich Halit Yozgat nicht angetroffen habe, war mir schon mal passiert. Ich habe selbst Schwierigkeiten, es mir zu erklären, warum ich so gehandelt habe. Aber es ist leider so gewesen.
Götzl Können Sie nähere Angaben zu den Quellen machen, die Sie geführt haben?
Temme Ich habe fünf Quellen aus dem Bereich Islamismus geführt. Und eine im Bereich Rechtsextremismus.
Götzl Wann hatten Sie im Tatzeitraum Kontakt zu Ihrer Quelle aus dem Bereich Rechtsextremismus?
Temme Ich selbst hatte daran keine Erinnerung mehr. Bei einer Vernehmung durch die Bundesanwaltschaft im März 2012 wurde mir vorgehalten, dass es am Tattag zwei Telefonate mit dieser Quelle gab. Die Quelle hat mich am Mittag angerufen. Ob ich rangegangen bin oder den Anruf weggedrückt habe, weiß ich nicht mehr. Später am Nachmittag habe ich sie vom Büro aus angerufen und mit ihr einen Termin fur Montag ausgemacht. Es ging wohl um Geld. Quellen bekommen Geld und er wollte wohl noch Geld bekommen.
Götzl Welche Informationen haben Sie von der Quelle erhalten?
Temme Es ging um den Bereich der rechtsextremistischen Parteienlandschaft. Das genaue Zielobjekt darf ich nicht nennen. Aber es ging um eine kleine, eher unbedeutende Partei. Die Quelle war nicht sonderlich ergiebig.
Götzl Schildern Sie uns bitte einmal Ihren Werdegang.
Temme Ich war erst bei der Bundespost. 1994 habe ich mich beim Landesamt für Verfassungsschutz beworben. 1998 bin ich in die Außenstelle Kassel gekommen und habe dort als Ermittler gearbeitet. Ab 2003 war ich mit Quellenführung betraut. Im Herbst 2003 hatte ich den ersten Kontakt mit der Quelle. Am 21. April 2006 wurde ich vom Dienst suspendiert.
Götzl Welche Erinnerungen haben Sie an das Gespräch mit der Quelle am Montag nach der Tat?
Temme Im Prinzip keine mehr. Ich war an diesem 10. April sehr aufgewühlt, weil ich am Sonntag von dem Mord erfahren hatte. Was ich definitiv ausschließen kann, ist, dass ich irgendwelche Informationen zur Tat bekommen habe. Das hätte sich mir eingepräagt.
Götzl Haben Sie mit Ihrer Quelle über die Tat gesprochen?
Temme Ich habe an das ganze Gespräch keine Erinnerung mehr. Aber aus einem Vorhalt im Bundestagsuntersuchungsausschuss weiß ich, dass er mich offensichtlich darauf angesprochen hat. Ich habe es wohl relativ schnell beiseitegedrängt und war etwas wortkarg, was ich mir durch das Aufgewühltsein erkläre. Ich habe mich natürlich gefragt, wie nah war ich da dran, wann war ich dort in dem Internetcafé.
Götzl Wie sind Sie zu der falschen Zuordnung der Tage gekommen?
Temme Laut meiner Stempelkarte bin ich am Mittwoch früher gegangen, und an dem Donnerstag erst um 16.45 Uhr. Und was dann in meinem Kopf stattgefunden haben muss, war der Gedanke, dass es dieser Donnerstag nicht gewesen sein kann. Im Grunde ging es mir so wie jedem anderen, dass ich dachte, das kann doch gar nicht sein, dass ich an dem Tag da war. Und dann muss das der Mittwoch gewesen sein. Bis mir dann am 21. April sehr massiv klar gemacht wurde, dass dem nicht so war. (An dem Tag wurde er von der Polizei festgenommen.) Wie ich diesem Irrtum erliegen konnte, dieser Gedanke beschäftigt mich seit sieben Jahren.
Götzl (schaut ihn kritisch an.) Sie konnten sich am Sonntag nicht mehr erinnern, ob Sie am Mittwoch oder Donnerstag in dem Café waren? Ich habe mit diesem Punkt, das gebe ich ganz offen zu, Schwierigkeiten.
Temme Ich war so oft dort, dass ich nicht mehr wusste, an welchem Tag genau. Und dann hat sich der Gedanke festgesetzt: Es kann doch gar nicht sein, es kann doch nur der Mittwoch sein. Es kann doch nicht sein, dass ich nichts mitbekommen habe, außer, dass Herr Yozgat nicht am Schreibtisch sitzt. Ich bin da auch in keiner Weise stolz drauf, ganz im Gegenteil. Dieser Trugschluss ist ein Punkt in meinem Leben, den ich nicht begreife und den ich nicht ungeschehen machen kann.
Götzl Welche dienstlichen und privaten Ängste hatten Sie denn?
Temme Ich war jung verheiratet. Wir erwarteten unser erstes gemeinsames Kind. Ich hatte Angst um meine Beziehung. (Was er nicht sagt: Er chattete im Internetcafé auf einem Flirtportal mit einer fremden Frau.) Einen objektiven Grund, dass mein Dienstherr sagt, diese Gegend ist für dich tabu, gab es nicht. Ich hatte die Befürchtung subjektiv, obwohl es vielleicht objektiv gar keinen Grund gegeben hat. Ich habe mich zu sehr gefürchtet vor Konsequenzen, die vielleicht eintreten können.
Götzl Das sind mir zu viele Vielleichts. Eine Angst wäre möglicherweise nachvollziehbar, wenn Sie sich raushalten wollten.
Temme Nein, die Angst habe ich mir eingeredet, weil ich meine subjektiven Befürchtungen überbewertet habe. Sie hat nichts damit zu tun, dass ich etwas mitbekommen hatte. Ich habe leider nicht so gründlich nachgedacht, wie ich es hätte tun sollen.
(Nach einer Pause hakt Götzl weiter nach. Temme bleibt dabei, er habe am Sonntag nicht mehr gewusst, dass er am Donnerstag zur Tatzeit im Internetcafé war. Er habe weder ein Geräusch gehört noch Blutspuren oder die Leiche von Halit Yozgat gesehen.
Götzl Wir werden Sie erneut vorladen. Ich darf mich für heute bedanken.
Temme (leise) Darf ich vielleicht noch die Gelegenheit nutzen, um den Hinterbliebenen der Opfer mein tiefes Mitgefuhl auszusprechen? (Er bekommt keine Antwort.)