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Tag 44

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9. Oktober 2013

Manfred Götzl, Richter. M.Z., 57, Radio- und Fernsehmechaniker aus Nürnberg. Er ist als Zeuge zu dem Mord an İsmail Yaşar in der Nürnberger Scharrerstraße geladen. Christina L., 29, Polizistin in Merseburg. Udo V., 50, Kriminalhauptkommissar aus Borken/NRW. Wolfgang Stahl, Anja Sturm, Verteidiger von Beate Zschäpe.

M.Z. Ich war am 9. Juni 2005 im Obi in der Regensburger Straße und habe eine Arbeitsplatte gekauft. Auf der Rückfahrt bin ich in die Scharrerstraße gefahren und musste an einem Fußgängerüberweg halten. Den haben auch zwei Radfahrer überquert, einer war lang und dünn, der andere kurz und kräftig. Kurz darauf habe ich Schüsse gehört. Erst ein paar, dann wieder. Es hat mich aber nicht interessiert, ich bin zu meinem Laden weitergefahren, ich repariere Radios und Fernseher.

Götzl Woher kamen die Radfahrer?

M.Z. Von links nach rechts. Die waren sehr ruhig und langsam auf dem Fußgängerweg, das hat mich genervt, weil ich schnell zu meinem Laden wollte.

Götzl Was hatten sie an?

M.Z. Nicht eine Jeans, sondern so Trainingshosen.

Götzl Können Sie die Geräusche noch mal beschreiben?

M.Z. Erst einen und dann ein paar Stück nacheinander. Ich hab sie aber nicht gezählt. Jeden Tag hört man was, es fällt was runter, Unfälle, Schüsse.

Götzl War das Geräusch so eindeutig für Sie?

M.Z. Das waren Schüsse, eindeutig. Tsch, tsch, tsch, tsch.

Götzl Kennen Sie das Geräusch von Schüssen?

M.Z. Ja, im Irak gab es das und in Nürnberg auch. Richtung Tiergarten ist ein Trainingszentrum der Polizei, da hört man solche Geräusche oft. Ich dachte zuerst, der Klang kommt von meinem Kassettendeck im Auto. Also hab ich zurückgespult, aber die Kassette war in Ordnung. Als ich dann in meinem Laden war, kam auf einmal ein Hubschrauber über meinen Laden. Wie bei Star Trek. Meine Nachbarin hat später gesagt, der Imbissbesitzer ist ermordet worden.

Götzl Warum haben Sie keine Veranlassung gesehen, sich gleich bei der Polizei zu melden?

M.Z. Ich dachte, das ist nicht mein Problem. Ich mache meine Arbeit.

Götzl An dem Fußgängerüberweg – hatten Sie da Blickkontakt mit den Radfahrern?

M.Z. Der zweite Radfahrer war sehr langsam. Ich hab ihn nervös angeschaut und ihm angedeutet: weiter, weiter! Er hat schlimme Finger gemacht. Er war ruhig wie im Urlaub.

Götzl Sie haben bei der Polizei ausgesagt, Sie hätten die erste Person auf den Lichtbildern erkannt.

M.Z. Den Großen habe ich hundertprozentig erkannt. Mit den abstehenden Ohren. Den Zweiten nicht.

Götzl Sagen Ihnen die Namen Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt etwas?

M.Z. Nee.

Götzl Sie kennen sie auch nicht aus der Presse oder aus dem Fernsehen?

M.Z. Ich schau kein Fernsehen. Und höre kein Radio. Ich spiele nur Keyboard und Gitarre. Hin und wieder läuft bei meiner Tochter N24. Aber ich hasse Nachrichten, das ist doch alles Lüge.

Götzl Haben Sie mal Bilder von den dreien gesehen?

M.Z. Nee, ich schlafe bis elf Uhr, fahre zum Laden und arbeite bis ein Uhr nachts. Und am Wochenende mache ich Musik. Das Einzige, was ich mitbekommen habe: Auf der Straße haben ein paar türkische Leute angefangen zu lästern: Vielleicht hat die Frau ihn umgebracht, wegen des Erbes. Vielleicht war es die Mafia, vielleicht ging es um Drogen.

Götzl Sie sind erst viel später zur Polizei gegangen. Warum?

M.Z. Die Frau von Yaşar hat mich angefleht, zur Polizei zu gehen und zu sagen, was ich gesehen habe. Das fand ich komisch: Erst gab es auf der Straße die Gerüchte, sie habe ihren Mann umbringen lassen, und jetzt fleht sie mich an.

(Richter Götzl zeigt ihm das Fahndungsplakat von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt.)

M.Z. Ich werde wahrscheinlich nie wieder als Zeuge ausagen, selbst wenn man meinen Vater umbringt.

Götzl Warum? Weil wir Sie alles Mögliche fragen?

M.Z. Ja, natürlich möchte ich, dass die Wahrheit herauskommt.

Götzl Wir wollen nur Ihre Erinnerungen. Wenn Sie sich an etwas nicht erinnern, ist es auch nicht so schlimm.

M.Z. Ich bin fünf- oder sechsmal vorgeladen worden, stundenlang ausgefragt worden.

Götzl Erinnern Sie sich noch an die Radfahrer?

M.Z. Ja, einer hatte die Taschen ausgebeult, als wenn Zigaretten oder eine Geldbörse drin wäre. Ich hasse Leute, die ihre Taschen vollstopfen.

Verteidigerin Sturm (unterbricht) Herr Vorsitzender, können wir 15 Minuten Pause machen. Ich würde mich gern mit meiner Mandantin besprechen. Sie kann sich kaum noch konzentrieren.

Götzl (mustert Zschäpe) Sie lächeln, Frau Zschäpe, vielleicht können Sie mir das selbst erklären, ob Sie sich noch konzentrieren können. Das Lächeln irritiert mich etwas.

Verteidigerin Sturm Das interpretieren Sie so.

Götzl Ich interpretiere nicht, ich schildere nur, was ich sehe. Wir haben spät angefangen, eine Stunde müsste Ihre Mandantin schon durchhalten.

Verteidigerin Sturm Meine Mandantin hat aber schon einen langen Tag hinter sich.

Götzl Hat Ihre Mandantin jetzt Konzentrationsschwächen oder nicht? Sagen Sie mir das ganz klar! Dann kann ich darüber entscheiden.

Verteidigerin Sturm Ich hatte nicht vor, eine solche Diskussion vom Zaun zu brechen.

Götzl Sie haben mich mitten in der Frage unterbrochen. Das ist mir nicht verständlich. Sie stören mich mitten in meiner Befragung. Ich habe ja auch ein Konzept. Da braucht es gute Gründe, wenn Sie mich unterbrechen.

Verteidigerin Sturm Dann ziehe ich das zurück.

(M.Z. verlässt den Gerichtssaal und Götzl verkündet eine Pause. Die nächste Zeugin ist die Polizistin Christina L.)

Götzl Sie haben die Asservate ausgewertet, die in der Frühlingsstraße in Zwickau gefunden wurden, darunter mehrere Zeitungsausschnitte. Was haben Sie festgestellt?

Christina L. Es wurden sehr viele Zeitungsartikel in der Wohnung sichergestellt, insgesamt 68. Es gibt Zeitungsartikel zur Česká-Mordserie und zu den Kölner Bombenattentaten. Die Asservate wurden zum Teil auch im NSU-Bekennervideo verwendet. Auf zwei Asservaten waren Fingerabdrücke von Frau Zschäpe.

Götzl Auf welchen Zeitungsartikeln befanden sich die Fingerabdrücke von Frau Zschäpe?

Christina L. Auf welchen genau, kann ich jetzt nicht mehr sagen. Das steht aber in meinem Bericht. Auf einer Zeitung aus Dortmund war ganz sicher ein Fingerabdruck von Frau Zschäpe drauf.

Götzl (Er lässt ein Foto des Berichts »Wer tut nur so was?« aus einer Dortmunder Zeitung vom 5. April 2006 über den Mord an Mehmet Kubaşık zeigen.) In Ihrem Vermerk findet sich bei diesem Bericht kein Hinweis auf eine Fingerspur von Frau Zschäpe.

Christina L. Dann trügt mich meine Erinnerung. Es waren 68 Artikel, ich weiß es nicht mehr genau.

(Götzl liest aus dem Bericht der Polizistin vor. Demnach fand sich auf einem Artikel über den Mordfall Habil Kılıc aus der Münchner Zeitung tz vom 30. August 2001 eine Fingerspur von Zschäpe »am oberen Rand des Zeitungsausschnitts mittig«. Eine weitere Fingerspur findet sich am unteren Rand, rechts, auf einem Artikel aus dem Kölner Express vom 11. Juni 2004 über den Anschlag in der Kölner Keupstraße. Sie stammt von Zschäpes linkem Daumen und linkem Zeigefinger.)

Christina L. Wenn das da so steht, dann ist das zutreffend. Dann habe ich mich mit der Dortmunder Zeitung vertan.

Verteidiger Stahl Wurden alle 68 Zeitungsartikel auf daktyloskopische Spuren untersucht?

Christina L. Ja. Und auf zwei Asservaten waren Spuren von Frau Zschäpe.

Verteidiger Stahl Wurden von anderen Personen Spuren festgestellt?

Christina L. Ich gehe davon aus, dass es keine weiteren Spuren gab, weil ich sonst die Gutachten bekommen hätte.

Verteidiger Stahl Es wurden also auf 68 Zeitungsausschnitten lediglich an zwei Asservaten Spuren gefunden und diese stammten von Frau Zschäpe. Auf allen anderen sind keine Spuren festgestellt worden. Habe ich Sie da richtig verstanden?

Christina L. Ja.

Verteidiger Stahl Welche kriminalistischen Schlüsse haben Sie daraus gezogen?

Christina L. Dass Frau Zschäpe die Artikel zumindest mit ihren Fingern berührt hat.

(Christina L. verlässt den Gerichtssaal. Wolfgang Stahl setzt zu einer Erklärung an.)

Verteidiger Stahl Der Generalbundesanwalt stützt einen nicht unwesentlichen Teil seiner Vorwürfe gegen Frau Zschäpe auf die These, dass ein umfangreiches Zeitungsarchiv zu den hier angeklagten Taten bestanden habe und dass unsere Mandantin an der Erstellung des Archivs mitgewirkt habe. Von der Zeugin haben wir gehört, dass 68 Artikel gefunden wurden und sich lediglich auf zwei Artikeln Spuren finden. Das beweist, dass unsere Mandantin nur einen ganz seltenen Kontakt zu den Artikeln gehabt haben kann. Hätte Frau Zschäpe ein Zeitungsarchiv, wie es in der Anklage heißt, angelegt und gepflegt, hätten sich bei lebensnaher Betrachtung eine Vielzahl daktyloskopischer Spuren von Frau Zschäpe finden müssen. Ein Beweiswert ist daher nicht gegeben.

(Der Zeuge Udo V. betritt den Gerichtssaal.)

Udo V. Ich bin im letzten Jahr an das BKA abgeordnet gewesen, um die Fahrzeuganmietungen des Trios zu überprüfen. (Verteidiger Heer schüttelt beim Wort Trio den Kopf.) Vernehmungen und Außenermittlungen habe ich nicht gemacht.

Götzl Können Sie etwas zu den einzelnen Firmen sagen?

Udo V. Von 2000 bis 2011 konnte ich 65 Autoanmietungen feststellen bei insgesamt vier Firmen.

Götzl Wer hat die Wagen angemietet?

Udo V. Die ersten drei Anmietungen erfolgten auf die Personalien von André Eminger. Ab Februar 2004 wurden sämtliche Anmietungen auf Personalien von Holger Gerlach vorgenommen. Dafür wurden der Führerschein und zwei verschiedene Reisepässe vorgelegt.

Götzl Wurden bei der Befragung der Firmen auch Bilder von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe vorgelegt?

Udo V. Ja. Herr Böhnhardt, aber oft auch Holger Gerlach wurden wiedererkannt, die beiden hatten eine fast identische Brille. Bei einer Firma soll Frau Zschäpe 2011 dabei gewesen sein bei einer Vorbesprechung. In einer anderen Firma hieß es, Frau Zschäpe sei 2007 oder 2008 im Geschäft gewesen und habe eine geplante Autovermietung verhandelt. Es sei aber nicht zum Abschluss gekommen.

Verteidiger Stahl Was soll der Zeuge denn da eigentlich bekunden? Er war doch gar nicht draußen und hat niemanden befragt.

Götzl Aber er hat alles zusammengefasst. Welchen Beweiswert Sie dem dann beimessen, können Sie ja später entscheiden. Es ist vielleicht für Sie ganz gut, mal eine Übersicht zu haben. Ich kann natürlich auch bei jedem Satz den Zeugen fragen, ob er sich erinnern kann, je nachdem, wie lange Sie hier zubringen wollen.

(Stahl winkt ab.)

Götzl Ich hab viel Energie.

(Götzl setzt die Befragung fort und erkundigt sich detailliert nach einzelnen Anmietungen von Wohnmobilen und wie sie mit den einzelnen Verbrechen korrespondieren.)

Verteidiger Stahl Was hat das jetzt für einen prozessualen Sinn, dass Sie dem Zeugen seitenweise Vorhalte machen und er nickt?

Götzl Sie können das volle Programm bekommen. Ich kann auch jede Angabe einzeln abfragen. Zur Not verlesen wir alle Mietverträge. Das können Sie alles haben.

Verteidiger Stahl Ich will ja keinen Streit vom Zaun brechen.

Götzl Ich auch nicht, ich halte Ihnen nur die Konsequenzen vor Augen.

Udo V. 15 Fahrzeuganmietungen korrespondieren mit insgesamt 17 Straftaten. Im Einzelnen waren das sechs Tötungsdelikte, zwei Sprengstoffanschläge und neun Raubüberfalle auf Geldinstitute.

Der NSU Prozess

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