Читать книгу Der NSU Prozess - Tanjev Schultz - Страница 57

Tag 40

Оглавление

30. September 2013

Manfred Götzl, Richter. Veronika A., 63, Zeugin aus Dortmund. Sie gab an, sie habe wenige Tage vor dem Mord an Mehmet Kubaşık auf einem Grundstück neben ihrem Haus in Dortmund-Brackel verdächtige Personen beobachtet. Es habe sich um Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gehandelt. Cihan B., 47, Kriminalhauptkommissar aus Kassel. Er ermittelte im Mordfall Halit Yozgat und vernahm unter anderem den Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme, der sich zur Tatzeit im Internetcafé des Opfers aufgehalten hatte. Wolfgang Stahl, Verteidiger von Beate Zschäpe. Olaf Klemke, Verteidiger von Ralf Wohlleben.

Veronika A. Ich bin wohnhaft in Dortmund-Brackel und habe am 31. März 2006 eine Beobachtung gemacht. Das Datum ist mir noch genau in Erinnerung, weil an diesem Tag ein wichtiges familiäres Ereignis stattgefunden hat. An diesem Tag habe ich dafür Sorge zu tragen gehabt, dass ein Möbelwagen Zugang findet zur Einfahrt. Das war nicht zeitlich fixiert. Ich habe das natürlich schon die Tage vorher beobachtet, ob die Zufahrt frei ist. Dabei habe ich festgestellt, dass ein sehr großes, hohes, langes weißes Wohnmobil auf dem Weg gestanden hat. Ich hatte Flatterband besorgt und habe am Tag davor einen Zettel an dem Wagen angebracht mit der Bitte, ihn zu versetzen. Am 31. morgens war die Einfahrt frei. An einem der folgenden Tage bin ich am späteren Nachmittag ins Dachgeschoss gegangen, wohl um etwas abzulegen. Dabei bin ich ans Fenster getreten und habe hinausgeschaut.

Ich bin nach dem ersten Blick zurückgeprallt, weil ich unten auf dem Nachbargrundstück eine Gruppe wahrgenommen habe, die auf mich gewirkt hat wie eine Theaterszene. Es standen drei schwarz gekleidete Menschen – zwei Männer und eine Frau – in einer Reihe. Auf der linken Seite stand noch ein Mensch, den ich als »Skin« beschreiben würde, und hat wie ein kleiner Feldherr sein Grundstück gezeigt, und einen ganz kurzen Moment hab ich gesehen, dass noch ein weiterer Mann da war, ein sehr viel jüngerer Mann. Der ist kurz da gewesen und dann weggegangen und nicht wiederaufgetaucht. Ich habe die Gruppe durch die Fensterscheibe beobachtet und habe nach dem ersten Schreck gedacht: Oh, wie lustig, ein Skinhead und drei Punker. Dann habe ich ein Fernglas zur Hand genommen, das immer am Fenster steht, habe sie mir genauer angesehen und festgestellt, dass es sich nicht um Punker handelte.

Die Frau, die ich später als Frau Zschäpe erkannt habe, ist in der Reihe ganz außen rechts gestanden. Daneben waren die Männer, die ich später als Mundlos und Böhnhardt erkannt habe.

Ich hatte dann das Gefühl, jetzt will ich nicht mehr mit dem Fernglas schauen, das ist nicht meine Art, so Nachbarn zu beobachten. Ich habe das Fenster geöffnet und wollte mein Gesicht zeigen. In dem Moment hat die Frau hochgeschaut, wir hatten Blickkontakt. Sie hat nicht weggeschaut und etwas zur Seite gesprochen. In dem Moment schauten alle hoch. Dann haben alle kehrtgemacht und sind durch die Hintertreppe schnell verschwunden. Ich dachte, seltsam, wenn es neue Nachbarn sind, warum verschwinden sie so schnell?

Der sogenannte Skin war mir nicht fremd, und auch den anderen Mann hatte ich schon zu einem früheren Zeitpunkt gesehen. Etwa im Jahr 2003/04 wurde der Baumarktzaun rund um das Grundstück angebracht, sodass man es nicht mehr einsehen konnte. Der Zaun hat mich geärgert, weil er wüst ausgesehen hat und hässlich. Aber es war nun einmal so, das ist ja Sache der Nachbarn. Im Frühjahr 2005 wurde mit Grabungen begonnen auf dem Grundstück. Diese Grabungen haben mich beunruhigt, weil sie zu ungewöhnlichen Zeiten stattgefunden haben, abends, auch mal nachts. Es wurden ganz schwere Betonguss-Kübel hochgewuchtet, das war richtig Schwerstarbeit.

Zwischen 2004 und 2006 sind lang anhaltend Wohnmobile geparkt worden. An einem Wohnmobil ist mir ein ungewöhnliches Kennzeichen in Erinnerung, ein Buchstabe war ein Z. Und es gab auch C und A als Buchstabenkombination.

Götzl Haben Sie die Beobachtungen mit anderen besprochen?

Veronika A. Mit meinem Mann, mit dem ich damals noch nicht verheiratet war, habe ich über die Grabungen gesprochen und auch über das Gefühl, dass ich die Gruppe als bedrohlich empfand.

Götzl Wie ging es dann weiter?

Veronika A. Ich habe danach so einschneidende Beobachtungen wie diese Grabungen nicht mehr gemacht, und auch keine weiteren Gruppen oder eine ähnliche Konstellation beobachtet. Ich habe danach auch keine Parkplatznot, erzeugt durch Wohnwagen, mehr wahrgenommen.

Götzl Wie ist es dann dazu gekommen, dass Sie heute hier als Zeugin sitzen?

Veronika A. Im November 2011 sind ja die Fahndungsfotos veröffentlicht worden, und das war eine spontane Reaktion, als ich die Fotos gesehen habe. Ich habe zu meinem Mann gesagt: Das sind die Männer, die ich auf dem Grundstück gesehen habe. In diesem Kontext habe ich auch eine Verbindung zu der Wahrnehmung von Wohnwagen festgestellt. Danach wurde Frau Zschäpe auch in der Öffentlichkeit mit Fahndungsfotos bekannt und der Kontext NSU hat sich erschlossen. Und als ich Frau Zschäpe auf Fotos gesehen habe, habe ich gesagt: Das war die Frau, die ich gesehen habe. Ich war sehr erstaunt, dass bei den direkten Unterstützern niemand aus Dortmund dabei war, wo es doch eine sehr gewaltbereite Szene auch in Dortmund gibt. Und da habe ich gedacht: Ich sollte doch mal eine Spur geben, dass ich etwas gesehen habe. Ich habe sehr mit mir gerungen, wie ich das mache.

Auf dem Internetportal »Der Westen« habe ich einen Artikel über Spuren des NSU nach Dortmund gelesen. Daraufhin habe ich dem Autor eine E-Mail geschickt, um ihm zu sagen, ich habe Beobachtungen mitzuteilen. Das war Mitte Februar 2012. Es gab dann im März eine Kontaktaufnahme mit dem Autor, ich habe ihm aber nicht gesagt, dass ich Frau Zschäpe, Herrn Mundlos und Herrn Böhnhardt identifiziert habe, sondern ich habe nur allgemein von einer Gruppe gesprochen.

Im Juni 2013 habe ich dann einen Bericht über die Verhandlung hier gelesen. Vorher gab es ja bereits Berichte über einen Briefwechsel Zschäpes mit einem Dortmunder Neonazi.

Da habe ich bei mir gedacht: Jetzt muss ich mein Wissen mitteilen. Das ist an dem Punkt, wo meine Verantwortung liegt. Und habe mich an Herrn Rechtsanwalt Bliwier von der Nebenklage gewandt. Im August meldete sich dann Rechtsanwalt Kienzle bei mir. Am 29. August 2013 haben wir dann eine Ortsbesichtigung unternommen.

Götzl Sie haben Frau Zschäpe nun hier im Saal gesehen. Hat sich an Ihrer Erinnerung irgendetwas geändert?

Veronika A. (Zschäpe guckt lächelnd zur Zeugin.) Nein. Natürlich wird sich Frau Zschäpe seit 2006 verändert haben, aber der direkte Blick und der Mundzug – ja. Wenn Sie nicht ein perfektes Double haben, Frau Zschäpe, dann glaube ich schon, dass ich das wiederholen kann. Ich habe Frau Zschäpe gesehen.

Götzl Warum haben Sie sich nicht bei der Bundesanwaltschaft gemeldet?

Veronika A. Das war mir zu hoch angesiedelt. Ich habe etwas beobachtet und nur in meinem Kopf hat das stattge …, ist das verankert. (Heftiges Nicken bei den Verteidigern von Wohlleben.

Es folgen Fragen der Bundesanwaltschaft und der Nebenklagevertreter. Dann ist die Verteidigung an der Reihe.)

Verteidiger Stahl Haben Sie sich nach der Vernehmung Ihres Mannes miteinander nochmal über die Grabungen unterhalten?

Veronika A. Wir haben uns unterhalten, ja.

Verteidiger Stahl Hat er Ihnen etwas Neues erzählt?

Veronika A. Die Beamten haben ihm gesagt, das Grabungsfeld sei für einen Teich gewesen. Da musste ich sehr lachen. Wer unter Platanen einen Teich anlegt, sollte eigentlich wissen, dass dieser Teich spätestens nach dem ersten Blätterfall voller Laub ist.

(Der Mann, den die Zeugin als »Skin« bezeichnet hatte, war sechs Tage zuvor vom BKA vernommen worden. Er sagte, sie hätten im Garten einen Teich angelegt und deshalb gegraben. Er sagte auch, seine Frau hätte selbst festgestellt, dass sie Zschäpe ähnlich sehe. Er und seine Frau werden am 43. Verhandlungstag als Zeugen gehört. Dem BKA sagte der Mann, er kenne Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt nicht. Vor der Befragung der Zeugin von A. hatte Götzl den Prozessbeteiligten kopierte Fotos der Frau des »Skins« gezeigt. Es herrschte Uneinigkeit darüber, inwiefern tatsächlich eine Ähnlichkeit mit Zschäpe besteht.)

Verteidiger Stahl Wenn Sie jetzt diese Informationen haben, glauben Sie immer noch an Neonazis, die da etwas vergraben haben?

Veronika A. Ich denke höchstens, es sind Neonazis, die nicht wissen, wie man einen Teich anlegt. (Tatsächlich wurde der Teich wegen des Laubfalls ein Jahr später wieder zugeschüttet.)

Verteidiger Klemke Ihr Mann sprach laut Vernehmung als Erster von »Neonazis, die etwas vergraben haben«. Ist er denn Spezialist für Neo-Nationalsozialismus?

Veronika A. Mein Mann ist Neuhistoriker, er ist in führender Position im Stadtarchiv Dortmund tätig gewesen. In den Achtziger- und Neunzigerjahren hatte er mal den Auftrag, eine Mahn- und Gedenkstätte aufzubauen. Er hat sich auch regelmäßig zum Neofaschismus weitergebildet, Spezialkenntnisse hat er nicht.

Verteidiger Klemke Wie weit war denn das Fenster entfernt zu der Gruppe?

Veronika A. Das kann ich nicht genau schildern. Da müsste ich jetzt einen Dreisatz ausrechnen.

Verteidiger Klemke Das verlange ich nicht.

Veronika A. In Sichtweite.

Verteidiger Klemke Konnten Sie denn Einzelheiten ohne Fernglas erkennen in den Gesichtern?

Veronika A. Es waren keine verschwommenen Gesichter, aber natürlich war nicht jede Pore zu erkennen.

Verteidiger Klemke Warum haben Sie noch ein Fernglas benutzt? Ich versteh das nicht.

Veronika A. Um meinen ersten Schrecken zu bewältigen, sagte ich mir ja: Oh, ein Skinhead und drei Punker. Dann habe ich das Fernglas genommen und festgestellt, nein, es sind keine Punker. Ich habe sie etwa vier bis fünf Minuten beobachtet.

Verteidiger Klemke Da haben Sie ja sehr lange geschaut. Haben Sie jedes Gesicht einzeln studiert?

Veronika A. Ich habe jedes Gesicht angesehen, studieren würde ich nicht sagen.

Verteidiger Klemke Wussten Sie, dass es irgendwann auf eine Identifizierung ankommen würde?

Veronika A. Nein. Die Sache war so: Es war eine Gruppe, die mich frappiert hat. Dann habe ich ein Fernglas genommen, um mir das anzuschauen. Auch um festzustellen, wie sie da stehen und aussehen. Das hab ich aber alles schon erklärt.

Verteidiger Klemke Hatten Sie in der Vergangenheit öfters mit Punks zu tun?

Veronika A. Ja, ich gebe denen manchmal Geld. Man sieht sie in Dortmund, die haben Hunde dabei.

Verteidiger Klemke Wie kamen Sie dann auf Punks?

Veronika A. Ich hab schon gesagt, das war mehr eine Selbstberuhigung.

(Es geht nun wieder um den Mordfall Halit Yozgat. Der nächste Zeuge ist Kriminalhauptkommissar Cihan B. aus Kassel.)

Cihan B. Während der Tat waren insgesamt sechs Zeugen am Tatort, zwei von ihnen surften im Internet, zwei telefonierten. Auch Andreas Temme, der Verfassungsschutz-Beamte, war im Internet. Ein Iraker telefonierte von 16.54 Uhr bis 17.03 Uhr. Er sprach beim Betreten des Ladens mit Halit Yozgat – da war noch alles in Ordnung. Und um 17.03 Uhr war die Tat schon begangen. Das wussten wir. Alles andere sind Spekulationen.

Götzl Wie sah es mit dem Andreas Temme aus?

Cihan B. Der Temme hat von 16.51 Uhr bis 17.01 Uhr gesurft. Ein Zeuge sagte, dass er sah, wie Temme das Internetcafé verließ. Er habe dann ein Plumpsen gehört, dann sei ein weiterer Kunde gekommen und habe gefragt, ob noch jemand da sei. Das würde bedeuten, dass die Tat begangen wurde, nachdem Herr Temme das Café verlassen hatte. Dann wären aber nur wenige Sekunden für den Mord geblieben, weil Herr Temme sagte, er habe Halit Yozgat gesucht, sei dann zum Tresen gegangen und habe 50 Cent hingelegt. Das hätte etwa eine Minute gedauert. Sagen wir mal so: Es wäre sehr knapp gewesen.

Wir haben eine Zeit lang eine Telefonüberwachung bei Herrn Temme gemacht und ihn dann festgenommen. Bis dahin wussten wir gar nicht, was der von Beruf ist. Ich habe ihn dann vernommen. Er sagte, er hat sich nicht gemeldet, weil er sich als Verfassungsschützer dort nicht aufhalten durfte. In der Nähe sei eine Moschee, die der Verfassungsschutz überwacht. Seine Frau sollte auch nicht erfahren, dass er dort auf einem Flirtportal gechattet hat, während sie hochschwanger zu Hause saß. Außerdem sagte er, er habe gemeint, einen Tag vor der Tat im Internetcafé gewesen zu sein. Er habe auch nichts gehört und nichts gesehen, und dabei ist er bei beiden Vernehmungen geblieben. Er sei nach dem Surfen im Internet zuerst in den Telefonraum und dann vor die Tür gegangen, um nachzusehen, ob Halit Yozgat draußen steht. Dann sei er wieder reingegangen in den Telefonraum und habe 50 Cent auf den Tresen gelegt. Er wurde wieder entlassen, weil kein dringender Tatverdacht begründbar war.

Wir haben auch zwei Wohnungen durchsucht, eine bei seinen Eltern und eine andere. Es fanden sich mehrere Schusswaffen und ein Haufen Munition. Herr Temme hatte eine Waffenbesitzkarte. Außerdem fanden wir Schriftstücke: Er hatte in seiner Jugend Bücher aus dem »Dritten Reich« abgeschrieben und die Unterschrift von Hitler nachgeahmt. Wir haben überprüft, ob er Alibis für die anderen Morde hatte, und fanden unter anderem heraus, dass er zur Tatzeit des ersten Mordes Geld in einer Kasseler Bankfiliale abgeholt hatte und während des sechsten Mordes auf Fortbildung war. Wir waren mit ihm auch am Tatort. Da sollte er sein Verhalten am Tattag rekonstruieren.

Götzl Von der Beendigung des Surfens bis zum Einsteigen in den Pkw – wie lange hat das etwa gedauert?

Cihan B. Wir haben da 1,05 Minuten geschätzt. Um 17.01 Uhr hat er das Internet-Surfen beendet. Das heißt, es wären noch 40 Sekunden geblieben, um aus dem Laden rauszugehen, ohne was zu sehen.

Verteidiger Klemke Wie viele Zeugen haben denn Geräusche gehört, die man als Schussgeräusche werten könnte?

Cihan B. Ein Zeuge hat platzende Ballons wahrgenommen; eine Frau sagte, es habe tak tak tak gemacht. Die beiden Zeugen im Internet-Bereich meinten, sie hätten ein dumpfes Geräusch gehört, so als sei etwas zu Boden gefallen.

Verteidiger Klemke Wenn Halit Yozgat bereits tot gewesen wäre, als Temme zum Tresen ging, hätte er ihn da nicht sehen müssen?

Cihan B. Wenn man sich direkt an den Tresen stellt, ist die Wahrscheinlichkeit schon da, aber wenn man nur einen Meter rangeht, kann man auch nicht ausschließen, dass er ihn nicht sieht. Nach meiner Meinung hätte er ihn sehen müssen. Aber man kann es nicht zu 100 Prozent ausschließen, dass er ihn nicht gesehen hat. Der Zeuge Hamadi S. sagte ja auch aus, er habe den Toten nicht gesehen, obwohl er vorbeiging am Tresen.

Der NSU Prozess

Подняться наверх