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Tag 45

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10. Oktober 2013

Manfred Götzl, Richter. Carsten Schultze, Angeklagter. Wolfgang Heer, Verteidiger von Beate Zschäpe. Olaf Klemke, Nicole Schneiders, Verteidiger von Ralf Wohlleben. Johannes Pausch, Verteidiger von Carsten Schultze. Doris Dierbach, Eberhard Reineke, Peer Stolle, Anwälte der Nebenklage.

(Zu Beginn der Sitzung stellt die Verteidigung von Beate Zschäpe einen Antrag zu der Rentnerin Charlotte Erber, die bis zum 4. November 2011 in der Frühlingsstraße 26 in Zwickau wohnte und Nachbarin von Beate Zschäpe war.)

Vetreidiger Heer In der Strafsache gegen Frau Zschäpe wird beantragt, unverzüglich die Hauptverhandlung am Wohnort der Zeugin Charlotte Erber durchzuführen und die Zeugin zu vernehmen. Hilfsweise wird beantragt, die kommissarische Vernehmung der Zeugin Erber durch einen Richter anzuordnen und unserer Mandantin die Anwesenheit zu gestatten. Begründung: Die unverzügliche richterliche Vernehmung der Zeugin Erber ist geboten, um dem Recht unserer Mandantin auf konfrontative Befragung von Belastungszeugen Geltung zu verschaffen. Aus dem ärztlichen Attest geht hervor, dass Frau Erber ihrer Ladung aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr nachkommen könne, da sie an einer Demenz, einem Lungenhochdruck, einer irreparablen Herzinsuffizienz sowie einer hochgradigen Niereninsuffizienz leide. Zudem habe sich die Zeugin einen Bruch des Oberschenkelknochens zugezogen. Nach jetzigem Kenntnisstand ist die Zeugin zumindest auf absehbare Zeit nicht reisefähig. Zudem besteht die konkrete Besorgnis, dass die Aussagetüchtigkeit der Zeugin bereits in kurzer Zeit und endgültig nicht mehr gegeben sein wird.

Schon aufgrund des sehr hohen Lebensalters der Zeugin, Frau Erber ist 91 Jahre alt, duldet die unmittelbare Beweiserhebung keinen Aufschub mehr. Es steht zu befürchten, dass die Zeugin verstirbt oder ihre Aussagetüchtigkeit dauerhaft nicht mehr gegeben ist. Für die Verteidigung ist nicht weiter akzeptabel, dass der Vorsitzende der Vernehmung der Zeugin keine hinreichende Priorität zukommen lässt.

Die besondere Bedeutung der Vernehmung der Zeugin Erber folgt bereits aus einem handschriftlichen Vermerk des Zeugen Kriminalhauptmeister P. auf einer Niederschrift der Vernehmung von Frau Erber vom 12.11.2011: »Ich gehe davon aus, dass Zschäpe bei Frau Erber geklingelt hat. Deshalb sollte Frau Erber als ›Entlastungszeugin‹ vernommen werden.«

Anwalt Reinecke Die Frau ist 91 Jahre alt, dement und herzkrank! Sie sofort am Wohnort zu vernehmen, ist sowas wie ein Todesurteil für die Frau. Es gibt Leute, die noch nie was mit einem Gericht zu tun hatten. Da wird das Risiko in Kauf genommen, eine alte Frau massiv gesundheitlich zu schädigen. Für nichts und wieder nichts.

Anwältin Dierbach Ich halte das Anliegen der Verteidigung für nachvollziehbar.

Verteidiger Heer Selbstverständlich wollen auch wir nicht, dass die Zeugin bei der Vernehmung Schaden nimmt. Diesen Vorwurf weisen wir mit der gebotenen Deutlichkeit zurück!

Götzl Mir geht es auch darum, die Zeugin möglichst hier zu hören. Mal schauen, wie wir das lösen.

(Der Angeklagte Schultze wird nun befragt.)

Verteidiger Klemke Herr Schultze, danke erst mal, dass Sie sich bereit erklärt haben, unsere Fragen zu beantworten. Das führt mich sofort zur ersten Frage. Sie sagten, Sie wollten sich nicht als Einziger nackig machen. Und begründeten das mit dem Begriff der Waffengleichheit. Wie kommt es, dass Sie sich nun doch anders entschieden haben?

Schultze Es gab einen Beschluss von Herrn Götzl und Herrn Weingarten, es würde besser gewürdigt werden, wenn ich mich komplett einlasse.

Verteidiger Klemke Was war das für ein Beschluss?

Schultze Ich glaube, zur Haftfrage.

Verteidiger Klemke Was hat Herr Weingarten damit zu tun?

Schultze Das war eine Stellungnahme, die habe ich jetzt nicht vor Augen. Ich könnte das in der nächsten Pause heraussuchen.

Verteidiger Klemke Gab es Kommunikation zwischen Ihren Anwälten und der Bundesanwaltschaft?

Schultze Davon gehe ich nicht aus. Sonst wüsste ich das.

Verteidiger Klemke Von was leben Sie jetzt?

Schultze Dazu sag ich nichts.

Verteidiger Pausch Ganz kurz, Herr Kollege: Der Mandant ist im Zeugenschutzprogramm. Er darf dazu nichts sagen.

Verteidiger Klemke Ist Ihnen auch untersagt worden, über Leistungen zu sprechen, die Sie im Zeugenschutz erhalten?

Schultze Ich erhalte keine Leistungen im Zeugenschutz.

Verteidiger Pausch Es gilt, was ich eben gesagt habe. Sämtliche Lebensumstände sind tabu. Da können Sie so lange nachfragen wie Sie wollen.

Verteidiger Klemke Kein Grund zur Aufregung, er hat eine Frage beantwortet, da schließt sich eine Frage an. Was hat man Ihnen gesagt, wie Sie aus dem Zeugenschutz rausfliegen?

Schultze Wenn ich gegen Richtlinien verstoße.

Verteidiger Klemke Welche wurden Ihnen genannt?

Schultze Im Detail darf ich darüber nicht sprechen. Wenn ich mich jetzt strafbar machen würde, ich denke, das wäre ein Grund rauszufliegen.

Verteidiger Klemke Ist es richtig, dass Beamte des Zeugenschutzes Sie in der JVA Köln ansprachen?

Schultze Das ist richtig.

Verteidiger Klemke Wissen Sie, warum die Herren erschienen? Pardon, oder Damen. Ich will nicht chauvinistisch sein.

Schultze Weil ich mich gefährde mit dem, was ich hier mache. Also, dass ich mich hier äußere.

Verteidiger Klemke Sie berichten, dass Herr Christian Kapke und Herr Wohlleben auf Sie zukamen, um Kontakt zum Trio zu halten …

Schultze Nicht Christian, der André Kapke hat mich angesprochen.

Verteidiger Klemke Die beiden gaben Ihnen gegenüber an, sie fühlten sich überwacht?

Schultze Ja, so habe ich das in Erinnerung.

Verteidiger Klemke Haben Sie etwas im Verhalten von Herrn Wohlleben bemerkt, dass er sich überwacht fühlt?

Schultze (denkt lange nach) Schon. Es war zum Beispiel so, dass wir aus der Wohnung rausgegangen sind, wenn wir uns über die drei unterhalten haben.

Verteidiger Klemke Hat Herr Wohlleben eine Begründung dafür abgegeben?

Schultze Er hat von einer möglichen Verwanzung gesprochen.

Verteidiger Klemke Sie schilderten in einer Vernehmung einen Vorfall, dass Sie von wechselnden Pkws verfolgt wurden, als Sie aus der Szene ausgestiegen seien. Haben Sie selbst Beobachtungen gemacht, abseits davon, dass Sie in den Fokus staatlicher Überwachungsmaßnahmen geraten sein könnten?

Schultze Da habe ich keine bestimmte Situation vor Augen. Nur als ich von Autos verfolgt wurde, da war ich allein im Auto. Und das ging über Tage. Beim Rudolf-Heß-Wochenende in Thüringen, da war Tino Brandt dabei. Ein Auto von der Zivilpolizei war an uns dran. Da ist einer von uns nach rechts und der andere nach links. Damit sie uns nicht beide verfolgen können.

Verteidiger Klemke Vielleicht ist anzunehmen, dass das Auto verfolgt wurde, wo der Herr Brandt nicht drinsaß. Kleiner Scherz. (Tino Brandt war V-Mann des Verfassungsschutzes.) Fällt Ihnen noch was anderes ein, was Sie getan haben, um die staatliche Überwachung zu unterlaufen?

Schultze Das Handy ausschalten, wenn Wohlleben und ich über die drei gesprochen haben.

Verteidiger Klemke Am 11. Juni gaben Sie hier an, dass die beiden Uwes eine halb automatische Waffe wollten und keinen Colt-Revolver. Was haben die Ihnen konkret als Wunsch übermittelt?

Schultze Dass sie keinen Colt wollten, sondern eine Handfeuerwaffe. Keinen Trommelrevolver.

Verteidiger Klemke Haben Sie nachgefragt, warum sie keinen Revolver wollten?

Schultze Nein.

Verteidiger Klemke Haben Sie das dem Andreas Schultz im Waffenladen (Gemeint ist das Madley in Jena.) so mitgeteilt, dass es kein Revolver sein soll?

Schultze Ich geh davon aus.

Verteidiger Klemke Haben Sie das früher nicht anders geschildert?

Schultze Kann sein, das kam bei mir erst langsam wieder hoch. Da kamen viele Bruchsteine wieder hoch. Es kommt mal was dazu oder was verschwimmt.

Verteidiger Klemke Kommen wir zu einem anderen Thema. Sie hatten erwähnt, dass Sie eine Schwester haben, die hat einen Sohn von einem Vater bekommen, der nicht gerade rein deutschen Blutes ist.

Schultze Er kommt aus Ghana.

Verteidiger Klemke Wussten Ihre Freunde, dass Sie einen farbigen Neffen haben? Gab es da irgendwelche Bemerkungen?

Schultze Ich erinnere mich, dass wir vor dem Haus Fußball gespielt haben und Wohlleben und Kapke waren dabei.

Verteidiger Klemke Gab es da Bemerkungen?

Schultze Da hab ich keine Erinnerungen. Das war alles ganz normal.

Verteidiger Klemke Sie sind mit dem Zug nach Chemnitz gefahren, um die Waffe zu übergeben?

Schultze Richtig.

Verteidiger Klemke Wie oft haben Sie Mundlos und Böhnhardt gesehen, bevor sie abgetaucht sind?

Schultze Die zwei, drei Male, die ich geschildert habe.

Verteidiger Klemke Was war die letzte Begegnung?

Schultze Das war im Januar 98, bei einer Demo, kurz vor dem Abtauchen.

Verteidiger Klemke Wer hat die Verabredung getroffen für Chemnitz? Dass die Waffe dorthin gebracht wird?

Schultze Ich weiß nicht, ob mir das Herr Wohlleben gesagt hat oder die am Telefon. Ich bin mir fast sicher, dass die das nicht am Telefon gesagt haben. Ich meine, Herr Wohlleben war mit dabei, vom Gefühl her war er mit dabei.

Verteidiger Klemke Was war das für ein Zug nach Chemnitz?

Schultze Ein Regionalexpress, nix IC-mäßiges.

Verteidiger Klemke Sie sagten, die beiden hätten Sie am Gleis abgeholt. Wer hat da wen erkannt?

Schultze Die kamen auf mich zu, ich auf sie. Wer wen zuerst gesehen hat, weiß ich nicht mehr. Das war auf jeden Fall am hinteren Drittel vom Gleis.

Verteidiger Klemke Woran haben Sie sie erkannt?

Schultze Es war kein Getümmel, dass man sich erst suchen musste. Ich habe sie am Gesicht wiedererkannt. Ich hatte sie ja nur zwei Jahre nicht gesehen.

Verteidiger Klemke Und trotzdem haben Sie sie wiedererkannt? Obwohl Sie sie vorher nur drei, vier Mal gesehen hatten? Aha. (Pause.) Wäre es nicht besser gewesen, mit dem Auto zu fahren statt in einem vollen Zug?

Schultze Nö.

Verteidiger Klemke Haben Sie nicht drüber nachgedacht?

Schultze Nö.

Verteidiger Klemke Haben Sie nie nachgedacht, wenn Ihnen jemand irgendwas gesagt hat?

Schultze Weil mir gesagt wurde, ich soll mit dem Zug dahin kommen, habe ich das gemacht.

Verteidiger Klemke Wie haben Sie reagiert, als die bei der Übergabe der Waffe den Schalldämpfer draufschraubten? Fanden Sie das nicht beunruhigend? Es hätte ja jeden Augenblick jemand kommen können. Gab es da keine Reaktion Ihrerseits?

Schultze Wüsste ich nicht.

Verteidiger Klemke Woher wussten Sie, dass das Geld für die Waffe von Herrn Wohlleben kam?

Schultze Er sagte zu mir: »Geh zum Schultz!« Zu dem vom Madley-Laden. Er war die einzige Person, die damit zu tun hatte. Ich hatte das Geld nicht.

Verteidiger Klemke Also schlussfolgern Sie nur, dass das Geld von ihm war?

Schultze Ich weiß es.

Verteidiger Klemke Aber woher denn, wenn Sie an die Geldübergabe keine Erinnerung haben?

Schultze Ich weiß es einfach.

Verteidiger Klemke Aha, Sie wissen es einfach. Wie oft und wie lange haben Sie die Waffe gesehen, die Sie besorgt haben?

Schultze Einmal beim Wohlleben, einmal bei mir und einmal in Chemnitz.

Verteidiger Klemke Sie sagten, Herr Wohlleben habe die Waffe auf Sie gerichtet und gelacht?

Schultze Ja.

Verteidiger Klemke Was haben Sie dabei gefühlt?

Schultze Es war schon komisch. Es war als Scherz gemeint.

Verteidiger Klemke Wie komisch?

Schultze Es war mir schon unangenehm.

Verteidiger Klemke Sie sagten, Herr Wohlleben glaubte, die Wohnung sei abgehört gewesen. Und Sie gehen mit der Knarre da rein?

Schultze Da haben Sie mich falsch verstanden. Die frühere Wohnung war vielleicht verwanzt, aber diese – da fällt mir nichts ein. Da haben wir jedenfalls keinen anderen Raum aufgesucht, um zu sprechen.

Verteidiger Klemke Sie sagten, Wohlleben habe den Schalldämpfer aufgeschraubt und dabei Lederhandschuhe angehabt?

Schultze Ja, richtig.

Verteidiger Klemke Haben Sie das von sich aus berichtet, bei der Vernehmung?

Schultze Ja, das war so eine Idee.

Verteidiger Klemke Ist die Idee bei Ihnen selbst gereift oder hat da jemand nachgeholfen? Oder kam die aus den tiefsten Tiefen wieder autonom bei Ihnen hochgekrochen?

Schultze Herr Weingarten hat mir ein paar Stichworte gegeben, und darüber habe ich nachgedacht.

Verteidiger Klemke Aha.

Verteidigerin Schneiders Haben Sie wegen des Zeugenschutzes selbst für sich Gefahren gesehen?

Schultze Konkret nicht, aber mir war schon klar, dass ich Zorn auf mich ziehen werde. In der rechten Szene werden mich viele als Verräter ansehen.

Verteidigerin Schneiders Sie haben gesagt, dass aus Ihrer JN-Gruppe einige ausgestiegen sind. (JN steht für Junge Nationaldemokraten, die Nachwuchsorganisation der NPD.) Ist denen irgendwann mal was passiert, wovon Sie konkret wissen?

Schultze Ich weiß nur, dass mich anschließend einige umringt haben und fragten: Stimmt es, dass du schwul bist?

(Nach Ende der Befragung von Carsten Schultze stellt der Nebenklage-Anwalt Peer Stolle einen Antrag.)

Anwalt Stolle Ich beantrage, Papiere aus der Wohnung von André Kapke zu beschlagnahmen, insgesamt elf Blätter. Es handelt sich um eine Geburtstagspost an Kapke: In Anlehnung an die Bild-Zeitung wurde sie 1998 von Ralf Wohlleben und seiner Freundin Jana angefertigt. Unter der Überschrift »Denkmal ist restauriert« ist die Justitia-Statue zu sehen, die von Mundlos und Böhnhardt zerstört wurde. Unter der Rubrik »Kontaktanzeigen« sind Fotos von Uwe Mundlos zu sehen mit dem Text: »Kofferbauer, suche Lady, die mich daran hindert, meine Koffer ständig an abgelegenen Plätzen zu vergessen.« Und es heißt, das KZ Buchenwald sei in eine Tankstelle für Gas umfunktioniert worden.

Das Beweisstück belegt eine verfestigte rassistische Weltanschauung Wohllebens und eine Bereitschaft bis hin zum Mord. Es wurde zum 23. Geburtstag von Kapke am 24.8.1998 angefertigt. In dem Schriftstück zeigen sich menschenverachtende Vernichtungsfantasien, rassistische und antisemitische Stereotype. Wohlleben beschreibt sich selbst als Rassist. Er wusste, dass er für die gesamte Kameradschaft spricht. Offenbar hat er den Kern getroffen. Kapke hat das Schriftstück jahrelang aufbewahrt.

Der NSU Prozess

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