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14. Ermessen

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Ist die Behörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat sie gem. § 40 VwVfG ihr Ermessen entsprechend dem Sinn und Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten.

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Ermessen. Die Behörde ist dann i.S.d. § 40 VwVfG ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, wenn sie auf der Rechtsfolgenseite der maßgeblichen Rechtsgrundlage zwischen mindestens zwei rechtlich zulässigen Optionen entscheiden kann.[389] Im Gegensatz dazu sieht die Rechtsgrundlage in Fällen der gebundenen Verwaltung stets nur eine zulässige Rechtsfolge vor.[390] Zu unterscheiden ist zwischen dem Entschließungs- und dem Auswahlermessen. Das Entschließungsermessen betrifft die Entscheidung darüber, ob die Behörde tätig wird; im Rahmen des Auswahlermessens entscheidet sie darüber, wie sie tätig wird, also welche Maßnahme sie im konkreten Einzelfall ergreift.[391]

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Ob der Behörde ein Ermessen eingeräumt ist, ergibt sich nicht aus § 40 VwVfG, sondern aus der für den Verwaltungsakt maßgeblichen Rechtsgrundlage. Entweder räumt diese ausdrücklich einen Ermessensspielraum ein oder der Gesetzgeber kennzeichnet ihn durch Begriffe wie „kann“, „darf“, „ist befugt“ oder „ist berechtigt“.[392]

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Vorschriften, nach denen die Behörde eine bestimmte Rechtsfolge setzen „soll“ (sog. Soll-Vorschriften), sehen weder eine gebundene Entscheidung vor noch räumen sie der Verwaltung vorbehaltlos einen Entscheidungsspielraum ein. Stattdessen ordnen sie eine bestimmte Rechtsfolge an; nur in atypischen Ausnahmefällen darf die Behörde eine davon abweichende Entscheidung treffen.[393] Ähnliches gilt auch beim sog. intendierten Ermessen. Ein solches liegt vor, wenn die ermessenseinräumende Vorschrift „für den Regelfall von einer Ermessensausübung in einem bestimmten Sinne ausgeht“.[394] Obwohl Soll-Vorschriften und intendiertes Ermessen begrifflich unterschieden werden,[395] sind sie inhaltlich nur schwer voneinander abzugrenzen, da beide eine bestimmte Ermessensentscheidung für den Regelfall anordnen.[396]

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Abgrenzung zum unbestimmten Rechtsbegriff. Von Ermessensermächtigungen zu unterscheiden sind unbestimmte Rechtsbegriffe und Beurteilungsermächtigungen. Unbestimmte Rechtsbegriffe finden sich auf der Tatbestandsseite einer Norm und bedürfen der Präzisierung durch Auslegung, die gerichtlich uneingeschränkt überprüfbar ist.[397]

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Abgrenzung zum Beurteilungsspielraum. Beurteilungsspielräume werden ebenfalls auf der Tatbestandsseite einer Norm eingeräumt und vermitteln der Behörde ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbares Letztentscheidungsrecht hinsichtlich des Vorliegens der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzung.[398] Wegen der Einschränkung der grundsätzlich umfassenden Kontrolldichte im gerichtlichen Verfahren (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) bedürfen Beurteilungsspielräume einer gesetzlichen Grundlage.[399]

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Die gerichtliche Überprüfung der Ausübung der Beurteilungsbefugnis ist darauf beschränkt, „ob die Verwaltung den Gehalt der anzuwendenden Begriffe und den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich bewegen kann, erkannt hat, von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, die allgemein gültigen Beurteilungsmaßstäbe und die Regeln des inneren Entscheidungsverfahrens beachtet hat und sich nicht von sachfremden – gegen das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG verstoßenden – Erwägungen hat leiten lassen“.[400]

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Maßstab der Ermessensausübung. Der Maßstab für die Ermessensausübung ergibt sich aus § 40 VwVfG. Danach muss die Behörde das ihr eingeräumte Ermessen erkennen und ausüben. Die Ausübung wird bei schriftlichen und elektronischen sowie bei schriftlich oder elektronisch bestätigten Verwaltungsakten dadurch dokumentiert, dass die Behörde gem. § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG in der Begründung des Bescheids die Gesichtspunkte erkennen lässt, von denen sie bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist.

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Lediglich im Fall einer Ermessensreduzierung auf Null bedarf es keiner Ermessensausübung.[401] Eine Ermessensreduktion auf Null kommt aber „nur in engen Ausnahmefällen in Betracht“, und zwar dann, wenn „nach Lage der Dinge alle denkbaren Alternativen offenkundig nur unter pflichtwidriger Vernachlässigung eines eindeutig vorrangigen Sachgesichtspunkts gewählt werden können“.[402]

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Die Ausübung des Ermessens muss entsprechend dem Zweck der Ermächtigung erfolgen. Dieser ist durch Auslegung der einschlägigen Rechtsgrundlage zu ermitteln.[403] Die gesetzlichen Grenzen des Ermessens ergeben sich z.B. aus dem Grundsatz des Vorbehalts und des Vorrangs der Verwaltung (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG), so dass die Behörde keine gesetzeswidrige Entscheidung treffen darf.[404] Eine weitere Grenze der Ermessensausübung wird durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gezogen.[405]

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Auch ist das Ermessen unter Beachtung des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG auszuüben. Dabei kann sich eine gesetzliche Grenze der Ermessensausübung nach den Grundsätzen der Selbstbindung der Verwaltung auf der Grundlage ermessenslenkender Verwaltungsvorschriften i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG ergeben. Verwaltungsvorschriften entfalten grundsätzlich nur eine behördeninterne Wirkung, können aber wegen des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG sowie wegen des rechtsstaatlichen Gebots des Vertrauensschutzes aus Art. 20 Abs. 3 GG auch eine anspruchsbegründende Außenwirkung im Verhältnis zum Bürger haben.[406] Voraussetzung der behördlichen Selbstbindung aufgrund ermessenslenkender Verwaltungsvorschriften ist eine ständige Verwaltungspraxis, die die Vorgaben der Verwaltungsvorschriften zur Anwendung bringt.[407] In einem solchen Fall darf von den Vorgaben der Verwaltungsvorschriften nur in sachlich begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden.[408] Der Richtliniengeber wird durch diese Selbstbindung aber nicht daran gehindert, die ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften aufzuheben oder zu ändern, wenn es dafür sachliche Gründe gibt.[409] Aber auch ohne eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift kann sich eine Selbstbindung der Verwaltung aus einer gleichmäßigen Ermessenspraxis ergeben.

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Fehlerfolgen. Ist die Behörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, übt sie dieses aber nicht in Einklang mit § 40 VwVfG aus, führt dies zur materiellen Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts. Eine darüber hinausgehende Kontrollbefugnis steht dem Verwaltungsgericht aber nicht zu. Namentlich darf es nicht die Zweckmäßigkeit einer rechtmäßig getroffenen Ermessensentscheidung prüfen.

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Es werden drei Kategorien von Ermessensfehlern unterschieden: der Ermessensnichtgebrauch, der Ermessensfehlgebrauch und die Ermessensüberschreitung. Ein Ermessensnichtgebrauch liegt vor, wenn die Behörde den ihr eingeräumten Ermessensspielraum nicht ausgeübt hat (Ermessensausfall).[410] Dies kommt in Betracht, wenn sie irrtümlich von einer gebundenen Entscheidung oder von einer Ermessensreduktion auf Null ausgegangen ist oder aus anderen Gründen gänzlich davon abgesehen hat, die Zweckmäßigkeit der ihr zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen abzuwägen.[411]

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Ein Ermessensfehlgebrauch zeichnet sich durch defizitäre oder sachwidrige Ermessenserwägungen aus.[412] Ein Ermessensdefizit liegt vor, wenn die Behörde nicht alle nach dem Zweck der Ermessensermächtigung in die Ermessensentscheidung einzustellenden Umstände berücksichtigt hat.[413] Die Vermeidung eines Ermessensdefizits setzt deshalb voraus, dass die Behörde alle nach dem Zweck der Ermächtigung ermessensrelevanten Umstände umfassend ermittelt hat.[414] Sachfremd sind Ermessenserwägungen dann, wenn sie auf Umstände abstellen, die nach dem Zweck der Ermächtigungsgrundlage für die Ermessensentscheidung unerheblich sind.[415]

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Im Falle einer Ermessensüberschreitung trifft die Behörde eine Entscheidung, die von der Ermessensermächtigung nicht mehr umfasst wird, was z.B. bei Verstößen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder dann der Fall ist, wenn die Behörde eine Gebühr außerhalb des gesetzlichen Rahmens festsetzt.[416]

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Nach § 114 Satz 2 VwGO darf die Verwaltungsbehörde ihre im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts angestellten Ermessenserwägungen noch im gerichtlichen Verfahren ergänzen. Demgegenüber lässt diese Vorschrift im Prozess grundsätzlich weder eine erstmalige Ermessensausübung noch den Austausch von Ermessenserwägungen zu.[417] Davon zu unterscheiden ist das bloße Auswechseln der Begründung, wenn dadurch nicht auch die maßgeblichen Ermessenserwägungen ausgetauscht werden.[418]

D. Handlungsformen und Entscheidungen im Verwaltungsverfahren › II. Der Verwaltungsakt › 15. Bekanntgabe des Verwaltungsakts

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