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dd) Generalklausel des § 44 Abs. 1 VwVfG
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Grundlagen. Nach § 44 Abs. 1 VwVfG ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist. Diese Vorschrift ist in der Prüfungsreihenfolge nachrangig gegenüber § 44 Abs. 2 und 3 VwVfG. Ihr an die von der Rechtsprechung entwickelte Evidenztheorie anknüpfender Wortlaut[607] kann erhebliche Wertungsspielräume und damit im Einzelfall beachtliche Anwendungsunsicherheiten nach sich ziehen. Dennoch hat sich der Gesetzgeber gegen eine enumerative Aufzählung von Nichtigkeitsgründen und für die Übernahme der Evidenzformel entschieden, weil er darin einen optimalen Ausgleich zwischen der Anwendungsflexibilität des § 44 VwVfG einerseits und dem Erfordernis der Rechtssicherheit andererseits sah.[608]
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Besonders schwerwiegender Fehler. Nur ein qualifizierter Rechtwidrigkeitsmangel kann nach der Generalklausel zur Nichtigkeit des Verwaltungsakts führen. Besonders schwerwiegend i.S.d. § 44 Abs. 1 VwVfG ist nur ein solcher Fehler, „der den Verwaltungsakt als schlechterdings unerträglich, dh mit tragenden Verfassungsprinzipien oder der Rechtsordnung immanenten wesentlichen Wertvorstellungen unvereinbar erscheinen lässt […]. Die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen müssen in einem so erheblichem Maße verletzt sein, dass von niemandem erwartet werden kann, den Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen […]. Für diese Beurteilung ist grundsätzlich auf den Erlasszeitpunkt abzustellen […]“[609]. Anerkannte Fallgruppen sind z.B.:[610]
– | die Übertretung der Verbandskompetenz, wenn also der Kompetenzbereich selbstständiger Träger öffentlicher Verwaltung überschritten wird;[611] Beispiel: Pfändungsverfügungen von Landesbehörden gegen einen Schuldner in einem anderen Land setzen eine entsprechende gesetzliche Ermächtigung voraus; anderenfalls handelt die Landesbehörde außerhalb ihrer Verbandskompetenz;[612] |
– | ein Verstoß gegen die sachliche oder instanzielle Zuständigkeit nur „bei völliger sachlicher Unzuständigkeit, d.h. wenn unter keinem denkbaren Gesichtspunkt eine Zuständigkeit der die Verfügung erlassenden Behörde gegeben ist“[613]; Beispiel: Anordnung einer Straßensperre durch die Flurbereinigungsbehörde und nicht durch die dafür zuständige Straßenverkehrsbehörde oder den Straßenbaulastträger;[614] |
– | die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts an einen Verstorbenen;[615] |
– | schwere inhaltliche Fehler wie z.B. ein grober, zur völligen Unverständlichkeit des Verwaltungsakts führender Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot des § 37 Abs. 1 VwVfG.[616] |
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Demgegenüber ist z.B. ein durch arglistige Täuschung erwirkter Verwaltungsakt zwar materiell rechtswidrig. Allerdings ergibt sich aus § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 VwVfG, dass dieser Fehler nicht die Nichtigkeit des Verwaltungsakts zur Folge hat, sondern lediglich seine Rücknehmbarkeit.[617]
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Ebenso ist ein Verstoß gegen Unionsrecht an sich noch kein besonders schwerwiegender Fehler i.S.d. § 44 Abs. 1 VwVfG.[618] Dem Äquivalenzprinzip, das eine Rechtsanwendungsgleichheit von Unionsrecht und nationalem Recht fordert,[619] ist aber dadurch zu entsprechen, dass an die Nichtigkeit von Verwaltungsakten bei Verstößen gegen Unionsrecht keine strengeren Anforderungen gestellt werden als an die Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen nationales Recht.[620]
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Das Fehlen einer wirksamen Rechtsgrundlage („gesetzesloser Verwaltungsakt“) ist nicht prinzipiell ein besonders schwerwiegender Fehler i.S.d. § 44 Abs. 1 VwVfG, sondern nur unter der qualifizierten Voraussetzung, dass die Behörde den Verwaltungsakt offensichtlich in Kenntnis des Fehlens einer wirksamen Rechtsgrundlage erlassen hat.[621]
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Offensichtlichkeit. Der besonders schwerwiegende Mangel muss gem. § 44 Abs. 1 VwVfG bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich sein. Das ist dann der Fall, „wenn die schwere Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsakts für einen unvoreingenommenen, mit den in Betracht kommenden Umständen vertrauten, verständigen Beobachter ohne Weiteres ersichtlich ist und sich geradezu aufdrängt“[622]. In Ansehung der Gesamtumstände, wozu z.B. das zu einer bestimmten Rechtsfrage vertretene Meinungsspektrum zählt, darf also auch aus Sicht eines nicht Fach- oder Rechtskundigen[623] kein Zweifel am Vorliegen eines Rechtsfehlers und an dessen besonderer Schwere bestehen.[624] Mithin fehlt es an der Offensichtlichkeit, wenn zur Feststellung des Fehlers oder seiner Gewichtung erst eine nähere rechtliche Prüfung oder tatsächliche Klärung erforderlich wäre.[625] Die besonders schwerwiegende Fehlerhaftigkeit muss dem Verwaltungsakt also gewissermaßen „auf die Stirn geschrieben sein“[626].