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ee) Nachholung der Anhörung
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Vorbehaltlich abweichender spezialgesetzlicher Bestimmungen[650] kann gem. § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG eine rechtswidrig unterbliebene Anhörung eines Beteiligten (§ 28 Abs. 1 VwVfG)[651] nachgeholt werden.[652]
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Zuständigkeit. Bei gebundenen Verwaltungsakten kann die Anhörung sowohl von der Ausgangs- als auch von der Widerspruchsbehörde (vgl. §§ 72, 73 VwGO) nachgeholt werden.[653] Bei Ermessensverwaltungsakten ist nur die Ausgangsbehörde zur Fehlerheilung befugt, wenn die Widerspruchsbehörde nicht mit ihr identisch ist und sie lediglich zu einer Rechtskontrolle und nicht auch zu einer Zweckmäßigkeitsprüfung ermächtigt ist.[654]
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Uneinheitlich wird die Zuständigkeit zur Heilung des Anhörungsmangels beurteilt, wenn sich die Prüfbefugnis der Widerspruchsbehörde sowohl auf die Recht- als auch auf die Zweckmäßigkeit des Ausgangsverwaltungsakts erstreckt. Der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts entschied im Jahr 1982, dass auch in diesem Fall nur die Ausgangsbehörde zur Heilung des Anhörungsfehlers befugt sei. Denn die auf eine Vertretbarkeitsprüfung begrenzte Ermessenskontrolle der Widerspruchsbehörde sei nicht identisch mit der Ermessensausübung durch die Ausgangsbehörde. Es sei daher nicht auszuschließen, dass der Betroffene bei einer Anhörung durch die Ausgangsbehörde eine für ihn günstigere Entscheidung erwirkt hätte, die die Widerspruchsbehörde wegen ihrer nicht völlig identischen Entscheidungskompetenz so nicht mehr treffen könne.[655] Allerdings war diese Erwägung nicht entscheidungserheblich, weil im zugrunde liegenden Fall die Ausgangs- und die Widerspruchsbehörde identisch waren und damit die Anhörung von der Ausgangsbehörde nachgeholt wurde.[656] Knapp zwei Monate zuvor hatte dagegen der 1. Senat entschieden, dass nicht nur die Ausgangsbehörde, sondern auch die zur Recht- und Zweckmäßigkeitsprüfung ermächtigte Widerspruchsbehörde den einem Ermessensverwaltungsakt anhaftenden Anhörungsfehler heilen könne.[657] Hieran hielt er ein Jahr später in Ansehung der gegenteiligen Auffassung des 3. Senats ausdrücklich fest.[658] Die Auffassung des 1. Senats verdient den Vorzug, weil die gegenteilige Auffassung die Bedeutung der Zweckmäßigkeitskontrolle über Gebühr verkürzt und so den Sinn und Zweck des Widerspruchsverfahrens als Instrument zur behördlichen Selbstkorrektur aus dem Blick verliert.
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Allgemeine inhaltliche Anforderungen. Das wirksame Nachholen der Anhörung muss dem Sinn und Zweck der Anhörung so weit wie möglich gerecht werden. Soweit von der Nachholung eine „vollwertige Gewährung“ des Anhörungsrechts verlangt wird,[659] werden aber die Erwartungen an das von der Nachholung tatsächlich Leistbare überspannt.[660] Das Ziel der Anhörung, den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör zu wahren und ihn nicht mit einem für ihn überraschenden Verwaltungsakt zu überziehen,[661] kann eine nachträgliche Anhörung nicht mehr vollständig erreichen.[662] Der von der unterlassenen Anhörung ausgehende Überraschungseffekt kann nicht mehr behoben werden. Deshalb setzt das Bundesverwaltungsgericht für das wirksame Nachholen der Anhörung nicht voraus, dass es alle Funktionen der Anhörung erfüllt,[663] sondern nur, „dass die Anhörung nachträglich ordnungsgemäß durchgeführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht wird“[664]. Die Nachholung ist damit auf die Funktion der Anhörung als Aufklärungsbeitrag des Betroffenen mit dem Ziel des Herbeiführens einer in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht richtigen Entscheidung über den Erlass des Verwaltungsakts und die mit ihm verfügte Regelung beschränkt.
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Das Nachholen der Anhörung setzt mithin voraus, dass dem Betroffenen zum Zweck einer ergebnisoffenen Überprüfung des nunmehr bereits erlassenen Verwaltungsakts nachträglich Gelegenheit gegeben wird, sich zu den tatsächlich und rechtlich entscheidungserheblichen Umständen des Verwaltungsakts zu äußern.[665] Dieses Vorbringen muss die Behörde zur Kenntnis nehmen und ergebnisoffen würdigen.[666]
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Anforderungen bei Vorverfahren mit Widerspruchsbegründung. Soweit ein Vorverfahren stattfindet und der Widerspruch begründet wird, ist das Vorbringen in der Widerspruchsbegründung die Grundlage für die Nachholung der Anhörung, weil der Widerspruchsführer dann von seinem Äußerungsrecht in sachlicher oder rechtlicher Hinsicht Gebrauch gemacht macht. Würdigt die Ausgangs- oder Widerspruchsbehörde dieses Vorbringen ergebnisoffen, ist der Anhörungsfehler geheilt. Dabei darf regelmäßig davon ausgegangen werden, dass die Ausgangs- oder Widerspruchsbehörde das Vorbringen des Widerspruchsführers zur Kenntnis nimmt und sich ergebnisoffen mit ihm befasst hat und so das Widerspruchsverfahren zur behördeninternen Selbstkorrektur genutzt hat. Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn besondere Umstände des Einzelfalls begründete Zweifel an der ergebnisoffenen Würdigung des Vorbringens wecken und die Behörde diese nicht ausräumt.[667]
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Anforderungen bei Vorverfahren ohne Widerspruchsbegründung. Allerdings setzt ein zulässiger Widerspruch über die Beachtung der Widerspruchsfrist und der Schriftform hinaus nicht voraus, dass er auch begründet wird (vgl. § 70 Abs. 1 VwGO).[668] In einem solchen Fall des ohne jede Begründung erhobenen Widerspruchs muss die Behörde den Betroffenen darauf hinweisen, dass der Verwaltungsakt wegen der rechtswidrig unterbliebenen Anhörung rechtswidrig ist, die Anhörung gem. § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG nachgeholt werden soll und ihm mit Blick darauf Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird.[669] Nur so wird dem Betroffenen entsprechend dem Regelungszweck des § 45 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 28 Abs. 1 VwVfG die Möglichkeit eröffnet, zumindest nachträglich Einfluss auf die behördliche Sachentscheidung nehmen zu können.
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Gegen die Hinweispflicht der Ausgangs- oder Widerspruchsbehörde lässt sich nicht einwenden, dass der Betroffene auch im Rahmen der Anhörung nach § 28 Abs. 1 VwVfG vor Erlass des Verwaltungsakts keine Stellungnahme abgeben muss, sondern ihm die Behörde lediglich die Möglichkeit hierzu zu geben hat. Denn die Behörde darf, zumal bei einem Rechtsunkundigen, nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass der Widerspruchsführer den Rechtswidrigkeitsgrund der unterlassenen Anhörung erkannt hat und von der Gelegenheit zur Äußerung bewusst keinen Gebrauch machen wollte. Deshalb muss die Ausgangs- oder Widerspruchsbehörde im Fall der fehlenden Widerspruchsbegründung dem Widerspruchsführer den Anstoß geben, damit dieser sein Äußerungsrecht erkennt und über dessen (nachträgliche) Wahrnehmung entscheiden kann.
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Hat der Betroffene auch auf die ausdrückliche Mitteilung der Behörde über die Nachholung der Anhörung keine Stellungnahme abgegeben, ist der Anhörungsfehler mit der Durchführung des Vorverfahrens geheilt.
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Notwendiger Inhalt der Begründung des Widerspruchsbescheids. Über die vorstehenden Anforderungen an die Heilung des Anhörungsmangels im Widerspruchsverfahren hinaus ist in formeller Hinsicht nach § 79 Halbs. 2 i.V.m. § 39 Abs. 1 Satz 2 VwVfG zu verlangen, dass sich die Begründung des Widerspruchsbescheids (§ 73 Abs. 3 Satz 1 VwGO) zur Nachholung der rechtswidrig unterlassenen Anhörung verhält. Denn erst wegen der Fehlerheilung darf (bei Rechtmäßigkeit des Ausgangsbescheids im Übrigen) die Zurückweisung des Widerspruchs tenoriert werden, so dass es sich um einen wesentlichen Grund der Widerspruchsentscheidung i.S.d. § 39 Abs. 1 Satz 2 VwVfG handelt. Bei Ermessensverwaltungsakten können zudem zusätzliche Ausführungen zur Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts gerade unter dem Blickwinkel des Widerspruchsvorbringens erforderlich sein (vgl. § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG).
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Gesteigerte Anforderungen im gerichtlichen Verfahren. An die Heilung des Anhörungsmangels im gerichtlichen Verfahren (vgl. § 45 Abs. 2 VwVfG) sind gegenüber der Heilung im Widerspruchsverfahren gesteigerte Anforderungen zu stellen. Anders als in dem auch der Selbstkontrolle der Verwaltung dienenden Vorverfahren kann im Stadium des gerichtlichen Verfahrens nicht mehr ohne Weiteres angenommen werden, dass die Behörde die vom Betroffenen gegen den Verwaltungsakt vorgebrachten Einwände ergebnisoffen würdigt. Es muss deshalb erkennbar sein, dass die Behörde nicht lediglich das Klagevorbringen abwehrt und die vom Kläger beantragte Aufhebung des Verwaltungsakts verhindern will.
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Deshalb wird ein Anhörungsmangel im gerichtlichen Verfahren nicht schon durch prozesstypische Äußerungen und Stellungnahmen zu Tatsachen oder Rechtsfragen geheilt.[670] Dies ist nur unter der qualifizierten Voraussetzung der Fall, „dass die Behörde den Vortrag des Betroffenen zum Anlass nimmt, ihre Entscheidung noch einmal auf den Prüfstand zu stellen und zu erwägen, ob sie unter Berücksichtigung der nunmehr vorgebrachten Tatsachen und rechtlichen Erwägungen an ihrer Entscheidung mit diesem konkreten Inhalt festhalten will und das Ergebnis der Überprüfung mitteilt.“[671] Dies muss erkennbar und zweifelsfrei sein.