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cc) Unionsrechtliche Einflüsse
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Das Unionsrecht steht der Anwendung des § 46 VwVfG nicht von vornherein entgegen.[687] Gleichwohl kann es mit Blick auf das unionsrechtliche Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip geboten sein, den § 46 VwVfG bei der Verletzung unionsrechtlich begründeter Verfahrensrechte nicht oder zumindest restriktiv anzuwenden.
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Die Frage, wann ein unionsrechtlich begründetes Verfahrensrecht kraft seines Eigenwerts selbstständig durchsetzbar sein muss und § 46 VwVfG deshalb nicht anwendbar ist, lässt sich anhand der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union noch nicht verlässlich beantworten. Absehbar ist aber, dass der Gerichtshof weniger auf den Unterschied zwischen relativen und absoluten Verfahrensrechten und die Ergebnisrelevanz des Verfahrensverstoßes abhebt, sondern auf die Wesentlichkeit des formellen Rechts.[688] Wann eine formell-rechtliche Vorschrift wesentlich ist, also einen selbstständig durchsetzbaren Eigenwert hat, und § 46 VwVfG unanwendbar ist, ist im konkreten Einzelfall anhand des Sinns und Zwecks des einschlägigen Unionsrechts und des Gewichts des Rechtsfehlers zu ermitteln.[689]
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Selbst wenn es mit Unionsrecht in Einklang steht, dass das nationale Recht eine Rechtsverletzung des Betroffenen bei einem ergebnisirrelevanten Verstoß gegen ein unionsrechtlich begründetes formelles Recht verneint, kann mit Blick auf den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz eine restriktive Auslegung des § 46 VwVfG geboten sein. So hat der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem „Altrip-Urteil“ vom 7.11.2013 zu Art. 10a Abs. 1 Buchst. b) der UVP-Richtlinie a.F.[690] entschieden, dass dieser einer nationalen Rechtsprechung nicht entgegenstehe, wonach eine Rechtsverletzung i.S.d. Art. 10a Abs. 1 Buchst. b) der UVP-Richtlinie a.F. dann nicht vorliegt, wenn ein Verfahrensfehler nicht ergebnisrelevant war.[691] Allerdings dürfe der Rechtsbehelfsführer nicht die Darlegungs- und Beweislast für die Ergebnisrelevanz tragen. Vielmehr sei darüber aufgrund der dem Gericht vorliegenden Akten sowie der vom Bauherrn oder der Behörde vorgelegten Beweise unter Berücksichtigung des Gewichts des geltend gemachten Fehlers und des Regelungszwecks der verletzten unionsrechtlichen Vorschrift zu entscheiden.[692]
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Dieses Verbot einer zu Lasten des Rechtsbehelfsführers gehenden Darlegungslastverteilung hat der Gerichtshof der Europäischen Union in einem gegen die Bundesrepublik Deutschland geführten Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV) mit Urteil vom 15.10.2015 bestätigt.[693] Allerdings erblickte er nunmehr eine unionsrechtswidrige Abwälzung der Darlegungslast auf den Rechtsbehelfsführer in dem mit § 46 VwVfG angeordneten Kausalitätserfordernis. Dieses erschwere die Ausübung des Rechts auf Einlegung von Rechtsbehelfen i.S.d. Art. 11 der UVP-Richtlinie übermäßig und laufe dem Ziel dieser Richtlinie, den „Mitgliedern der betroffenen Öffentlichkeit“ einen weitreichenden Zugang zu Gerichten zu gewähren, zuwider.[694] An dieser Entscheidung wird zu Recht kritisiert, dass der Gerichtshof der Europäischen Union die Möglichkeit der unionsrechtskonformen Auslegung und Anwendung des § 46 VwVfG aus dem Blick verloren hat.[695] Denn eine an den Maßstäben des „Altrip-Urteils“ vom 7.11.2013 orientierte unionsrechtskonforme Auslegung und Anwendung des § 46 VwVfG, die in Einklang mit diesem Urteil das nationalrechtliche Kausalitätserfordernis beibehält, dem Rechtsbehelfsführer aber nicht die Darlegungslast aufbürdet, ist ohne Weiteres möglich.[696]