Читать книгу Stille Nacht, höllische Nacht - Thomas R. Behrendt - Страница 13
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„Kann ich jetzt gehen, Herr Doktor, oder ist noch was?“ Oberschwester Gertrud streckte den Kopf zur Tür herein. Sie trug schon ihren Mantel über dem Arm und hielt ihre Tasche in der Hand. Offiziell hatte sie seit einer halben Stunde Feierabend. Aber durch die Ereignisse des Abends war es wieder mal später geworden.
„Nein, nein.“ Dr. Alexander Braun schüttelte den Kopf. „Ich wüsste nicht, was Sie noch tun könnten.“ Er selbst musste bleiben. Sein Vierundzwanzig-Stunden-Dienst war erst am nächsten Morgen um acht zu Ende.
Gertrud nickte froh. „Und Schwester Hildegard ist ja da. Für alle Fälle.“ Die Nachtschwester war eine erfahrene Kraft wie sie selbst. Kugelrund zwar und schon leicht ergraut, aber ohne Fehl und Tadel. Sie hatte ihr vollstes Vertrauen.
„Hmhm.“ Alex wollte allein sein. Er musste nachdenken. Die Flucht des Selbstmord-Patienten ging ihm nicht aus dem Sinn. Sie konnte seinen Ruin bedeuten. Wenn dieser Karabük sich umbringt oder sonst etwas anstellt, wusste Alex, dann bin ich dran. Dann lassen sie mich über die Klinge springen. Vielleicht auch Prof. Dombach. Aber zuerst einmal mich. Den jungen Assistenzarzt. Das letzte Glied in der Kette der Verantwortlichkeit. Ein Sündenbock par excellence.
Schwester Ellen denunzieren kam nicht in Frage. Das Pflegepersonal hielt zusammen wie Pech und Schwefel. Er würde sich damit isolieren. Ja, er würde sich nur noch tiefer in die Scheiße reiten.
Es musste eine andere Lösung geben. Aber welche? Dr. Braun holte die Krankenakte von Ahmed Karabük aus der Schublade mit der Aufschrift H – M und setzte sich an seinen Schreibtisch. Den Kopf in die linke Hand gestützt, blätterte er die Akte mit der rechten langsam durch.
Der ausgebüxte Patient war achtundzwanzig Jahre alt, entnahm Alex der Akte, türkischer Staatsangehöriger, verheiratet, ein Kind, wohnhaft im Biedenstädter Vorort Kaldenbach, Brückenstraße 42. Die üblichen Kinderkrankheiten. Bis zu seiner Einlieferung in die Psychiatrische Klinik keine besonderen Hinweise auf eine zerebrale Dysfunktion. Neurosen, Psychosen – Fehlanzeige. Was seine psychiatrische Vorgeschichte anging, war Ahmed Karabük ein unbeschriebenes Blatt. Und doch hatte er einen Suizidversuch unternommen, hatte hier in der Klinik absurde Wahnvorstellungen erkennen lassen sowie deutliche Anzeichen einer schweren Paranoia. Und er war gegen Alex gewalttätig geworden.
Ich hab' den Ernst der Lage unterschätzt, dachte Alex jetzt. Ich hätte den Kerl in die Geschlossene einweisen lassen müssen. Spätestens nachdem er mir an die Gurgel gegangen war und versucht hatte mich zu erwürgen. Die Erinnerung daran jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.
Dr. Braun schlug die Akte Karabük wieder zu, stand auf und ging zu dem kleinen Handwaschbecken an der Wand. Darüber hing ein Spiegel. Kritisch betrachtete er darin sein Gesicht. Trotz Sonnenbank wirkte er fast bleich. Seine Haut hatte einen gelblichen Schimmer. Oh, Mann, ich sehe steinalt aus, dachte er und zeichnete mit dem Finger die Ringe unter seinen Augen nach. Diese verdammten Überstunden! Diese Nachtschichten! Diese langen Dienste. Manchmal rund um die Uhr – so wie heute. Und das bei miserabler Bezahlung. Wenn das so weiter geht, halten sie mich bald alle für einen Greis!
Und dabei war Alex doch gerade erst einunddreißig geworden. Eigentlich noch jung. Gutaussehend. Frisch gebackener Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Erfolgreich im Beruf, anerkannt im Tennisclub und begehrt bei den Frauen. Das alles sah er jetzt dahinschwinden. Über dem vermeintlichen Sonnyboy brauten sich dunkle Wolken zusammen.
Alex seufzte. Dann drehte er den Wasserhahn auf und hielt sein Gesicht unter den eiskalten Strahl. Das erfrischte. Das tat gut. Das vertrieb die düsteren Gedanken. Zumindest für einen kurzen Moment. Doch rascher als erwartet kehrten sie zurück.
Rasieren müsste ich mich auch mal wieder, dachte er nach einem erneuten Blick in den Spiegel. Mit den dunklen Bartstoppeln fühlte er sich ungepflegt. Wie ein Penner. Er ekelte sich vor sich selbst. Aber für wen soll ich mich schön machen? Für Nachtschwester Hildegard etwa, diese Matrone? Der Gedanke daran amüsierte ihn. Nein, die Rasur hat Zeit bis morgen früh, wenn der lange Dienst endlich vorbei ist.
Alex setzte sich wieder an den Schreibtisch, wollte noch einmal die Akte Karabük aufschlagen, schob sie dann aber doch zur Seite und schaltete stattdessen das Radio ein. Ein kleines Transistorgerät mit ausziehbarer Antenne und grauenhaftem Klang. Aber es war ihm ans Herz gewachsen. Besonders nachts verschaffte es ihm manchmal ein wenig Zerstreuung. Alex wollte sich berieseln lassen, Musik hören, ganz einfach abschalten.
Doch jetzt brachten sie gerade Nachrichten: „...ist ein fünfunddreißigjähriger Taxifahrer getötet worden...“ Alex hörte kaum hin. „...Ein Unbekannter schnitt ihm die Kehle durch und raubte die gesamten Einnahmen. Nach Augenzeugenberichten handelt es sich bei dem flüchtigen Täter um einen Mann im Alter von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren, mit dunklen Haaren und südländischem Aussehen...“ Alex wurde jetzt aufmerksamer. „...Die Fahndung nach dem Taximörder läuft auf Hochtouren. Bei sachdienlichen Hinweisen wenden Sie sich bitte an die Polizei in Biedenstadt oder jede andere Polizeidienststelle...“
Biedenstadt? Das ist ja hier bei uns! Dr. Braun machte das Radio wieder aus. Fünfundzwanzig bis dreißig Jahre? Dunkle Haare und südländisches Aussehen? Oh, Mann! Das könnte dieser Ahmed Karabük sein, schoss es ihm blitzartig durch den Kopf. Um Gottes Willen! Bitte nicht. Das wäre eine Katastrophe. Nicht auszudenken!
Aber nein, Unsinn. Fünfundzwanzig bis dreißig 30 Jahre, dunkle Haare, südländisches Aussehen. Davon gab es Hunderte in der Stadt. Es könnte jeder sein. Nichts spricht dafür, dass es sich bei dem Taximörder um unseren entflohenen Patienten handelt, versuchte er sich Mut zu machen.
Oder doch? Zuzutrauen wäre es ihm, dachte Alex. Wie er mich damals angefallen hat – damit bewies er doch, dass er zur Gewalttätigkeit neigt. Und Alex malte sich aus, was hätte passieren können, wenn ein Messer in Reichweite gewesen wäre. Der Kerl hätte mich glatt abgestochen! Wie diesen bedauernswerten Taxifahrer...
Ich muss ihn finden! Plötzlich wurde es ihm glasklar: Ich allein kann verhindern, dass dieser Typ noch mehr anstellt. Ich allein kann ihn stoppen, diesen gemeingefährlichen Psychopathen!
Und wenn er es nun doch nicht war? Wenn irgendein anderer den Taximord begangen hat? Wenn Karabük womöglich längst über alle Berge ist? Bei seiner Familie. Bei Verwandten. Bei Freunden. Wenn er irgendwo friedlich schlummert? Ein armer Irrer zwar, aber völlig harmlos?
Egal! Nur wenn ich ihn finde und zurückbringe, kann ich die Situation retten. Nur so kann ich den Makel wieder loswerden, der an mir haftet, weil sich der Typ ausgerechnet während meiner Dienstzeit aus dem Staub gemacht hat.
Der Dank der gesamten Klinik wäre mir sicher, dachte Alex. Besonders der Dank von Prof. Dombach. Statt Karriere-Ende vielleicht sogar ein Karriere-Sprung!
Aber kann ich das allein hinkriegen? Diesen Kerl überwältigen, sedieren und zurück ins Krankenhaus schaffen? Nein, ich brauche Hilfe. Am besten einen starken Mann. Einen, dem ich vertrauen kann.
Wer könnte das sein? Wer kommt in Frage? Jemand aus dem privaten Bekanntenkreis? Nein, es dürfen nicht noch mehr Personen von dem peinlichen Vorfall erfahren. Es reicht, wenn die halbe Klinik davon weiß.
Manfred Gerling! Der Pfleger aus der Geschlossenen. Er kennt die ganze Geschichte. Er ist kräftig gebaut und kann ordentlich zupacken. Außerdem weiß er mit gewaltbereiten Patienten umzugehen. Ja, sagte sich Alex, Gerling ist für diese Operation genau der richtige Mann!
Ob er noch im Haus ist? Eigentlich hat er ja auch längst Feierabend. Der junge Doktor griff zum Telefon und rief in der Geschlossenen Abteilung an. Ein Kollege von Gerling meldete sich. Nein, Manfred sei gerade zur Tür hinaus. „Dann halten Sie ihn auf, Mann. Schnell! Es ist lebenswichtig!“
Ein paar Sekunden später: „Gerling hier? Was gibt’s denn noch?“
Alex fiel ein Stein vom Herzen. „Das ist ja wunderbar, dass Sie noch da sind.“
„Ich bin auf dem Sprung“, sagte Manfred mit unverhohlenem Ärger in der Stimme. „Ich wollte eigentlich längst zu Hause sein. Ist etwa schon wieder ein Patient von Ihnen getürmt?“
Alex fand die Bemerkung überhaupt nicht witzig. „Nein, wo denken Sie hin? Aber ich brauche ganz dringend Ihre Hilfe. Bitte, lassen Sie mich nicht im Stich.“ Und er schilderte Manfred aufgeregt seinen Plan. Die Geschichte mit dem Taximord allerdings ließ er unerwähnt.
„Wie wollen Sie diesen Karabük denn finden?“, fragte der Pfleger, als Alex fertig war. „Der kann doch überall sein. Das ist wie die Stecknadel im Heuhaufen. Haben Sie denn wenigstens irgendeinen Anhaltspunkt?“
„Nein, aber so groß ist Biedenstadt ja nicht. Wir setzen uns ins Auto und suchen. Bei seiner Wohnung fangen wir an.“
„Da hat Schwester Gertrud doch schon angerufen. Karabüks Frau sagte, er sei nicht da.“
„Und wenn sie gelogen hat?“
„Schwester Gertrud war überzeugt, dass sie die Wahrheit sagt.“
„Was versteht Schwester Gertrud schon davon? Sie ist schließlich kein Lügendetektor. Außerdem wäre denkbar, dass Karabük wirklich noch nicht zu Hause war, aber inzwischen dort eingetroffen ist.“
„Also, ich weiß nicht...“
„Kommen Sie schon! Wenn wir ihn finden, sind wir die Helden.“
Bist du der Held, dachte Manfred verstimmt. Du, der Halbgott in Weiß. Wir Pfleger sind doch eh immer nur die Deppen! Laut sagte er: „Na, dann in Gottes Namen. Ich hoffe nur, Sie wissen, was Sie tun.“
Dr. Braun atmete auf. „Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Wir treffen uns in fünf Minuten unten auf dem Parkplatz. Sie kennen ja meinen Porsche.“ Er wartete keine Antwort ab. Stattdessen riss er sich in aller Eile den Arztkittel vom Leib, zerrte den Wintermantel aus dem Garderobenschrank und kramte in der Hosentasche nach dem Autoschlüssel. Dann stürzte er aus seinem Dienstzimmer hinaus auf den Flur. Fast hätte er Nachtschwester Hildegard angerempelt, die gerade an seiner Tür vorbeischlurfte.
„Oh, Schwester. Tut mir Leid“, keuchte er. „Ich muss ganz dringend weg. Halten Sie hier die Stellung.“
„Wo wollen Sie denn hin, Herr Doktor, mitten in der Nacht?“, fragte die dicke Hildegard verdutzt.
„Es ist dienstlich. Mehr kann ich Ihnen jetzt nicht erklären. Vielleicht später, wenn ich zurück bin.“
„Und falls in der Zwischenzeit etwas passiert?“
Das möge der liebe Gott verhüten, dachte Alex. Was bisher passiert war, reichte ihm vollkommen. Er schob sich an der Nachtschwester vorbei und rannte in Richtung Treppenhaus. „Dann rufen Sie mich auf dem Handy an“, rief er ihr über die Schulter zu. „Bis später.“
Schwester Hildegard starrte ihm völlig entgeistert nach und murmelte: „Sind denn hier heute alle verrückt?“