Читать книгу Stille Nacht, höllische Nacht - Thomas R. Behrendt - Страница 24
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„Jetzt reicht's mir aber!“ Manuela Herder platzte langsam der Kragen. Die angekündigte halbe Stunde war schon lange vorüber und der Zug nach Köln noch immer nicht durch. Die öde Warterei zehrte an ihren Nerven. Warum informiert mich keiner?, dachte sie und griff zum Diensttelefon.
Es dauerte lange, bis sie den Fahrdienstleiter im Bahnhof von Biedenstadt am Apparat hatte.
Er war nicht viel besser gelaunt als sie: „Ich hätte Ihnen schon Bescheid gesagt, wenn ich Näheres wüsste.“
„Zum Teufel“, schimpfte Manuela. „Wo bleibt denn der blöde Zug?“
„Er steckt immer noch da unten fest. Die Gerolsteiner kriegen ihn einfach nicht frei.“
„Warum nicht?“
„Weil der Wind den Schnee meterhoch auf die Schienen geweht hat. Auf einer Länge von mehreren hundert Metern.“
„Und was heißt das?“
„Das heißt, dass es noch eine Weile dauern kann, bis es weitergeht. Vielleicht muss der Zug auch nach Trier zurückfahren und über Koblenz umgeleitet werden.“
„Und wozu hocke ich dann hier, die ganze Nacht?“
„Liebe Frau Herder. Sie sind nicht die einzige. Ich muss ebenfalls hier sitzen.“
„Aber Sie haben wenigstens etwas zu tun. Ich komme hier vor Langeweile um.“
„Haben Sie nichts zu lesen dabei?“
„Nein.“
„Mhmm. Sie hätten sich etwas mitbringen sollen.“
„Danke für den Tipp“, schnaubte sie. „Ich hatte ja keine Ahnung, wie öde so eine Nachtschicht hier ist. Ich fühle mich überflüssig wie ein Kropf. Am liebsten würde ich wieder nach Hause fahren.“
„Mooo-ment!“ Armin Ludewig kehrte jetzt den Vorgesetzten heraus. „Sie bleiben schön da, wo Sie sind.“
„Ist ja schon gut“, sagte Manuela kleinlaut. „Es war nicht ernst gemeint.“
„Falls die Gerolsteiner es doch noch schaffen, kann der Zug jederzeit kommen. Also, halten Sie sich bereit.“
„Okay. Tschüss dann“, sagte sie, hängte ein und gähnte. Dann stand sie von ihrem alten Bürostuhl auf und machte ein paar gymnastische Übungen, um die Müdigkeit aus dem Körper zu vertreiben. Allerdings nur mit mäßigem Erfolg.
Ich muss mal, dachte sie und schielte dabei nach dem Diensttelefon. Ich hätte Ludewig meine Handynummer geben sollen, damit er mich auch draußen erreichen kann. Aber was soll's? Ich bleibe nur ein paar Minuten weg. Länger halte ich es in der Kälte sowieso nicht aus.
Sie zog ihre warmen Sachen an, kletterte die schmale Stiege hinunter und öffnete die Tür. Ein eisiger Wind wehte ihr entgegen. Aus dem Plumpsklo neben dem Schrankenwärterhäuschen drang ein unangenehmer Gestank herüber. Manuela ging trotzdem hinein und erleichterte sich. Mit zugehaltener Nase, damit ihr nicht übel wurde. Nein, das war kein Luxus-Arbeitsplatz hier. Da hatte es der Fahrdienstleiter in seinem modernen Stellwerk doch ein bisschen bequemer als sie hier draußen...
Auf der Straße kroch gerade ein Auto vorbei, als sie die morsche Holztür des Toilettenhäuschens hinter sich schloss. In der Ferne sah sie den Lichtkegel eines zweiten Auto, das auf den Bahnübergang zusteuerte. Wenn jetzt der Regionalexpress käme, überlegte sie, dann gäbe es wohl ein Unglück. Aber er kommt ja nicht. Noch nicht. Wer weiß, ob er überhaupt kommt?
Zeit genug jedenfalls, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Sie wandte sich von der Straße ab und stapfte an der Bahntrasse entlang durch den hohen Schnee. Es ist erstaunlich hell, dachte sie.
Eigentlich ging sie nicht gerne nachts allein spazieren. Sie fürchtete sich im Dunkeln. Aber der Schnee tauchte die Landschaft in ein unschuldiges Weiß. Abgesehen davon – hier draußen ist ja eh keiner, versuchte sie sich Mut zu machen. Wer soll mir hier schon auflauern?
Als sie etwa fünf Minuten gegangen war, hielt sie plötzlich inne. Da vorne ist doch was, dachte sie. Irgendwas liegt da. Auf den Schienen...
Sie strengte ihre Augen gewaltig an, doch sie konnte nicht erkennen, was es war. Ein Tier, schoss es ihr durch den Kopf. Ein großes Tier liegt auf dem Gleis. Wenn der Zug kommt, wird es überfahren. Ich muss es schnellstens verscheuchen.
„Hey!“ rief sie laut. „Kschscht! Mach' dich weg!“
Das vermeintliche Tier richtete sich auf. „Was wollen Sie?“, rief es zu ihr herüber. „Hauen Sie ab!“
Um Gottes Willen, dachte Manuela, das ist ja ein Mensch! Sie erschrak. „Was tun Sie hier?“, fragte sie. Statt sich schleunigst zu entfernen, näherte sie sich vorsichtig.
„Hauen Sie ab“, sagte der Mensch noch einmal und legte einen drohenden Unterton in seine Stimme.
Manuela bemerkte den ausländischen Akzent. „Sie können da nicht liegen bleiben“, sagte sie beschwichtigend. „Was ist, wenn ein Zug kommt?“
„Ich will sterben“, sagte der Mensch auf dem Gleis. „Ich warte nur darauf, dass endlich ein Zug kommt.“
„Das kann aber noch dauern“, erwiderte Manuela nüchtern und trat jetzt an das Gleisbett heran. „Er steckt bei Gerolstein fest und kann nicht weiterfahren.“
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Ich arbeite da hinten in dem Schrankenwärterhaus. Mein Kollege im Biedenstädter Bahnhof hat es mir durchgesagt.“
„Wann kommt der Zug?“
„Keine Ahnung. Vielleicht kommt er gar nicht. Also, stehen Sie schon auf.“ Sie reichte ihm die Hand, um ihn hochzuziehen. „Oh, Sie sind ja eiskalt“, stellte sie fest. „Wie lange liegen Sie denn schon hier?“
„Ich weiß nicht.“ Er schaute sie unentschlossen an.
Manuela musterte den verhinderten Selbstmörder jetzt etwas genauer. Er war Mitte bis Ende Zwanzig, etwa einssiebzig groß und dunkelhaarig. Ein südländischer Typ. Vermutlich Türke oder Araber, dachte sie. Er sprach fließend Deutsch, aber mit starkem Akzent. Und er wirkte nicht unsympathisch. Seine scheinbare Verzweiflung weckte ihren Mutterinstinkt.
„Na, dann kommen Sie mal mit“, sagte sie freundlich. „Bei mir drüben im Schrankenwärterhaus können Sie sich aufwärmen. Und dann sieht die Welt gleich wieder ganz anders aus. Glauben Sie mir.“
Brav wie ein Hündchen trottete der Mensch hinter ihr her. Als sie eine Weile gegangen waren, wandte sie sich um und fragte: „Wie heißen Sie eigentlich?“
„Ahmed.“
„Ich bin Manuela. Wir müssen uns ein bisschen beeilen. Ich darf nicht so lange wegbleiben.“
Wortlos marschierten sie weiter, bis sie die Straße erreicht hatten. Sie war leer. Kein Auto weit und breit zu sehen.
Manuela öffnete die Tür zum Schrankenwärterhäuschen und ließ Ahmed eintreten. Als er am Fuß der Stiege unschlüssig stehen blieb, drängte sie sich an ihm vorbei und ging die Stufen voran. Er folgte ihr. Zunächst in gebührendem Abstand, dann schloss er rasch zu ihr auf.
Sie hatte das Ende der Stiege schon fast erreicht, da spürte sie plötzlich einen spitzen Gegenstand in ihrem Rücken. Ruckartig drehte sie sich um. „Hey, was soll das?!“
Ahmed gab keine Antwort. Er hielt ein langes Messer in der Hand. In seinen Augen las Manuela die reine Mordlust.