Читать книгу Stille Nacht, höllische Nacht - Thomas R. Behrendt - Страница 8
Оглавление20:20 h
„Allah, steh' mir bei!“, entfuhr es Renan Karabük auf Türkisch, als sie den Telefonhörer auflegte. „Er ist wieder draußen.“ Panische Angst überkam sie. Ihr wurde schwindlig. Sie musste sich erst einmal setzen.
„Mama, was ist mit dir?“ Der kleine Bülent spürte, dass mit seiner Mutter etwas nicht stimmte.
„Ach, nichts. Geh' spielen.“
Der Sechsjährige blieb erst eine Weile unschlüssig stehen, dann schlurfte er langsam nach nebenan ins Kinderzimmer und widmete sich seiner neuen Lego-Eisenbahn. Seine Mutter hatte sie ihm zu Weihnachten geschenkt. Zwar war für sie als Muslimin das Fest der Geburt Christi eigentlich bedeutungslos, aber ihr Sohn wäre sicher traurig gewesen, wenn seine deutschen Freunde ihm ihre Geschenke gezeigt hätten.
Renan verschränkte die Arme auf dem Küchentisch und vergrub ihr Gesicht darin. Sie musste in Ruhe nachdenken. Ahmed war also aus dem Krankenhaus abgehauen. Was hatte er vor? Bestimmt würde er versuchen sich nach Hause durchzuschlagen. Zu ihr und ihrem Sohn. Sie schauderte bei dem Gedanken. Würde dann alles von vorne beginnen? Seine depressiven Phasen, seine Tobsuchtsanfälle, in ständigem Wechsel?
Zuletzt hatte Ahmed die halbe Wohnung zertrümmert, die Gardinen zerrissen, die Möbel kurz und klein geschlagen, sogar den Putz von den Wänden geklopft. All ihr Klagen, all ihr Weinen hatten nichts geholfen. Im Gegenteil. Ahmed war nur noch wütender geworden.
Warum tust du das?, hatte Renan ihren Mann verzweifelt gefragt? Wonach suchst du eigentlich? Sei still, hatte er gebrüllt. Du steckst doch mit denen unter einer Decke. Mit wem, Ahmed, mit wem? Wovon redest du überhaupt? Da war er mit einem Messer auf sie losgegangen, hatte gedroht sie umzubringen und mit dem kleinen Bülent zu verschwinden. Unterzutauchen. Irgendwo, wo ihn keiner kannte. Wo sie ihn nicht finden würden. Er war danach völlig in sich zusammengesunken und erneut in Depression verfallen.
Mein Mann ist krank, hatte Renan erkannt. Er braucht dringend Hilfe. Aber wie? Freiwillig würde er keinen Psychiater aufsuchen. Niemals! Deshalb hatte sie gehofft, dass er wieder von alleine zur Besinnung käme. Und so schien es auch. Aber ein paar Tage, nachdem er sie bedroht hatte, war sie vom Einkaufen zurückgekehrt und hatte die Wohnung seltsam still vorgefunden. Ahmed! Bist du da? Sie hatte seine Anwesenheit gespürt. Wo bist du? Warum versteckst du dich? Sie hatte es mit der Angst bekommen. Wenn er ihr nun irgendwo auflauerte? Ganz vorsichtig war sie durch die Wohnung geschlichen, hatte ins Schlafzimmer gespäht, ins Kinderzimmer. Nichts. Nur im Bad war sie noch nicht gewesen. Ahmed! Immer noch keine Antwort. Totenstille. Und trotzdem. Er musste da drin sein. Er konnte nur noch da drin sein.
Ruckartig hatte Renan die Tür aufreißen wollen, doch sie war verschlossen gewesen. Also doch! Ahmed? Mach' auf. Ich bin's, deine Frau. Lass' mich 'rein!
Keine Reaktion.
Ich will dir doch nur helfen. Bitte, lass' mich dir helfen!
Ein kaum hörbares Röcheln drang aus dem Badezimmer.
Renan hatte gespürt, wie nackte Panik sie überkam. Sie war aus der Wohnung gestürzt und hatte im Treppenhaus um Hilfe gerufen. Dann hatte sie bei den Nachbarn gegenüber Sturm geklingelt, gegen deren Tür gehämmert, bis endlich jemand erschienen war. Bitte helfen Sie mir, hatte Renan gefleht. Aufgelöst in Tränen. Mein Mann! Ich glaube, ihm ist etwas passiert.
Doch die Nachbarin hatte sie nur verwirrt angesehen. Eine Kosovo-Albanerin. Sie verstand kein Wort. Kein Türkisch. Kein Deutsch. Renan war so verzweifelt gewesen, dass sie angefangen hatte zu brüllen. Immer lauter.
Davon war schließlich die alte Frau Brenner eine Etage höher aufmerksam geworden. Sie ging auf die Neunzig zu und trug ein Hörgerät. Was ist denn da unten für ein Krach?! Sie hatte sich übers Treppengeländer gebeugt und mit ihrem Krückstock herumgefuchtelt. Immer diese Ausländer! Kann man nicht mal mehr in Ruhe seinen Mittagsschlaf halten? Gleich ruf' ich die Polizei. Dann sollen Sie mal sehen!
Die Polizei! Richtig. Warum war sie nicht selbst darauf gekommen? Renan hatte sich auf dem Absatz umgedreht, war zurück in die Wohnung gerannt und hatte den Notruf 110 gewählt. Quälend lange war ihr die Zeit erschienen, bis endlich jemand abgenommen hatte. Viele Worte und viel Überzeugungskraft hatte es sie gekostet, bis der Beamte am anderen Ende der Leitung bereit gewesen war, einen Streifenwagen zu schicken. Eine gefühlte halbe Stunde hatte es gedauert, bis die beiden Polizisten bei ihr eingetroffen waren. Dann hatten sie die Badezimmertür aufgebrochen und Ahmed gefunden. Leblos in der Wanne liegend. Das Wasser dunkelrot gefärbt. Auf den Fußbodenkacheln ein blutverschmiertes Rasiermesser und ein leeres Tablettenröllchen.
Oh, mein Gott! Renan Karabük war auf ihren Mann zugesprungen und hatte ihn wie wild geschüttelt. Er ist tot, hatte sie zuerst gedacht. Doch plötzlich war ein Stöhnen aus seiner Brust gedrungen. Allah sei Dank, er lebt noch!
Von diesem Moment an war alles sehr schnell gegangen. Einer der Polizisten hatte über Funk einen Notarztwagen gerufen. Ahmed war abtransportiert und in die Psychiatrische Klinik gebracht worden. Ein Albtraum geht zu Ende, hatte Renan gedacht. Doch nach dem Anruf aus dem Krankenhaus fürchtete sie nun, der ganze Horror könne von vorne beginnen.
Liebte sie ihren Mann noch? Sie stellte sich diese Frage immer wieder und konnte sie doch nicht beantworten. Sie hatte ihn mal geliebt. Damals bei ihrer Hochzeit. In dem kleinen Dorf in Anatolien. Siebzehn war sie erst gewesen. Er einundzwanzig. Kein schlecht aussehender Mann. Arm zwar, aber intelligent und ambitioniert. Nach Deutschland wolle er gehen, hatte er ihren Eltern erzählt, viel Geld verdienen und dann in die Türkei zurückkehren. Ein Haus bauen, groß genug für seine Familie, die eigenen Eltern und die Schwiegereltern. Das hatte Renans Vater sehr imponiert. Und Renan auch. Mit Ahmed hatte sie den besten Ehemann bekommen, den sie sich vorstellen konnte. Ja, den Ahmed von damals hatte sie geliebt. Aber den Ahmed der letzten Wochen und Monate?
Nur, was sollte sie ohne Ehemann tun? Sie brauchte ihn. Er war ihr Ernährer. Auch wenn er zurzeit keine Arbeit hatte. Vor zwei Monaten war ihm im Zentrallager von Aldi gekündigt worden. Angeblich wegen der Sparmaßnahmen. Wahrscheinlich aber wegen seines merkwürdigen Benehmens. Wegen seiner Krankheit. Seiner Frau konnte Ahmed nichts vormachen. Sobald er wieder gesund wäre, würde er schon wieder eine neue Arbeit finden, hoffte sie.
Renan selbst ging putzen. Dreimal die Woche. Für fünfzehn Mark die Stunde. Das war ein ordentlicher Lohn, aber natürlich bei weitem nicht genug, um sich und Bülent durchzubringen. Selbst wenn sie noch eine vierte oder fünfte Putzstelle annähme, es würde nicht reichen.
Nein, ohne Ahmed ging es nicht. Allerdings musste er erst wieder gesund werden. Warum bloß war er aus der Klinik geflohen? Warum ließ er sich nicht helfen? Er brauchte doch ärztliche Hilfe. Warum sah er das nicht ein?
„Mama, ich hab' Durst.“
Renan schreckte aus ihren Gedanken hoch. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass ihr Sohn wieder in die Küche gekommen war. Er schmiegte sich an sie. Eigentlich müsste ich ihn jetzt ins Bett bringen, dachte sie. Es wurde Zeit für ihn, aber das schien ihr im Moment nicht so wichtig. Sie schenkte ihm ein Glas Wasser ein und betrachtete ihn eine Weile nachdenklich.
Der Kleine hatte sich ebenfalls verändert in den letzten Wochen. Er ist stiller geworden, dachte Renan, anhänglicher. Seine Unbekümmertheit, die ihn so auszeichnete, ist verschwunden. Und sein Bewegungsdrang auch. Er rennt kaum noch durch die Wohnung. Runter auf die Straße zu seinen Freunden will er auch nicht mehr.
Die Ereignisse hatten offenbar Spuren hinterlassen. Das merkwürdige Verhalten seines Vaters, das stille Leiden seiner Mutter. Bülent, musste sie zugeben, war doch sensibler, als sie ihn eingeschätzt hatte. Ein Glück nur, dass er noch im Kindergarten gewesen war, als sie Ahmed leblos in der Badewanne gefunden hatte. Sein Vater tot. Noch dazu durch Selbstmord! Das hätte Bülent bestimmt nicht verwunden. Vielleicht in seinem ganzen Leben nicht.
Ahmed war eine Gefahr für ihn. Das wurde Renan jetzt deutlich bewusst. Nicht nur eine Gefahr für sie selbst, sondern auch eine Gefahr für ihren Sohn. Sie musste Bülent vor seinem Vater schützen. Ihn wegbringen. Irgendwohin. Vielleicht zu ihrem Cousin. Mehmet. Der wohnte in Köln. Sie könnte mit dem Zug hinfahren. So schnell wie möglich. Am besten heute Abend noch, schoss es Renan durch den Kopf. Bevor Ahmed hier auftaucht!
Sie griff zum Telefon und wählte Mehmets Nummer.