Читать книгу Stille Nacht, höllische Nacht - Thomas R. Behrendt - Страница 6
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„Manu, spielst du nachher mit mir?“ Manuelas Neffe krallte sich in ihrem Pullover fest. Auf dem Teppich zu seinen Füßen stand das nagelneue Feuerwehrauto, das er sich vom Christkind gewünscht hatte. Natürlich eines mit ohrenbetäubender Sirene. Eines mit dem man seine Umwelt so richtig terrorisieren kann.
„Klar doch“, antwortete ihre Schwester Julia an Manuelas Stelle. Sie musste gegen die Feuerwehrsirene regelrecht anbrüllen. Dann stand sie auf und stellte den Lärm per Knopfdruck ab.
Die ganze Familie atmete erleichtert auf. Nur der kleine Racker nicht. „Feuerwehrauto!“, heulte er auf, schriller noch als die gerade abgestellte Sirene.
„Nun sei aber brav und setz' dich schön an den Tisch. Wir sind noch nicht mit dem Essen fertig“, sagte Julia.
„Ja, schau' mal, Tobias“, bemühte sich Manuela. „Du hast ja deinen Teller noch gar nicht leer gegessen.“ Sie packte ihn bei den Hüften und hievte ihn neben sich auf den gepolsterten Stuhl. Tobias wehrte sich und strampelte wild mit den Beinen. „Ich will aber nicht! Lass' mich!“
„Tobias. Bitte, sei lieb“, mahnte seine Mutter, doch ebenso gut hätte sie einem Ochsen ins Horn zwicken können. Der Vierjährige ließ sich nicht beeindrucken.
„Schau', Tobias. So ein leckerer Braten“, versuchte jetzt die Oma ihr Glück. Aber so leicht ließ sich der Widerspenstige nicht zähmen. Er malträtierte das Tischbein mit Fußtritten, dass das Geschirr nur so wackelte.
„Tobias!“, sprach sein Vater ein Machtwort, wandte sich aber gleich darauf wieder dem Schweinebraten zu und überließ die Erziehungsaufgaben dem Rest der Familie.
Manuelas Patenkind schlug jetzt mit den Fäusten auf den Tisch. Und bevor sie es verhindern konnte, geschah, was geschehen musste: Ein Weinglas kippte um, und der Spätburgunder verteilte sich großzügig über die weiße Tischdecke. Die Oma erschrak und stieß einen kurzen Schrei aus. Um ein Haar wäre auch noch eine brennende Kerze umgefallen, doch Tobias' Großvater fing sie reaktionsschnell auf.
„Jetzt reicht's, mein Sohn.“ Der Papa funkelte den Übeltäter böse an. „Wenn du nicht augenblicklich stillsitzt, geben wir dein Feuerwehrauto an das Christkind zurück.“
Sein Sohn quittierte die Drohung mit einem Aufschrei der Empörung.
„Lass' doch, Peter“, beschwichtigte seine Schwiegermutter. „Ist doch nicht so schlimm.“
„Oh doch, Mama“, sprang Julia ihrem Gatten bei. „Ich versteh' gar nicht, was heute Abend mit Tobias los ist. Normalerweise benimmt er sich nicht so ungezogen.“
„Na ja. Es ist eben Weihnachten“, zeigte der Opa Verständnis. „Die ganze Aufregung, die Geschenke und die vielen Leute. Da kann so ein Kind schon mal durcheinander kommen.“
„Am besten bringen wir ihn ins Bett“, schlug die Mutter vor.
„Nein!“, kreischte Tobias. „Ich will nicht! Erst soll Manu mit mir spielen.“ Er beugte sich zu dem Feuerwehrauto hinunter und streckte seine viel zu kurzen Ärmchen danach aus. Es fehlte nicht viel und er wäre vom Stuhl geplumpst.
„Du gehst jetzt schlafen“, beharrte Julia. „Komm' mit.“ Und sie versuchte ihren Sohn an der Hand zu nehmen. Doch der kämpfte jetzt erst recht wie ein Löwe, teilte Tritte und Fausthiebe nach allen Seiten aus. Mit einer linken Geraden traf er seine Patentante unter dem rechten Auge.
„Aua! Das tut doch weh!“ Manuela sprang auf. Beinahe wäre ihr die Hand ausgerutscht, und sie hätte ihrem Neffen eine geklebt. Im letzten Moment aber beherrschte sie sich und rang sich sogar ein Lächeln ab.
„Oh, das tut mir Leid, Manu“, beeilte sich ihre Schwester zu sagen. „Los, Tobias, sag', dass es dir auch Leid tut.“
Aber der Kleine brüllte jetzt nur noch wie am Spieß. Deshalb nahm Julia ihre ganze Kraft zusammen, hob ihn hoch und trug den strampelnden Jungen nach oben ins Gästezimmer. Unten konnten sie hören, wie sie sich dort weiter abmühte ihn ruhig zu stellen.
„Sei froh, dass du keine Kinder hast“, sagte Tobias' Vater zu Manuela gewandt und zündete sich eine Zigarette an. Seine Schwägerin schrak leicht zusammen und spürte, wie ihr Gesicht eine rötliche Färbung annahm. Es war ihr peinlich, denn auch ihre Eltern wussten nichts von der Schwangerschaft. Sie hatte es Martin natürlich zuerst sagen wollen. Jetzt fürchtete sie, sie müsse ihr Geheimnis preisgeben. Doch niemand hatte sie in diesem Moment aufmerksam genug beobachtet.
„Es ist alles nur eine Frage der Erziehung“, meinte der Opa.
„Das sag' ich auch immer zu Julia“, entgegnete Peter. „Aber irgendwie kriegt sie es nicht in den Griff.“
„Sie kriegt es nicht in den Griff? Und du? Was tust du denn?“, fuhr Manuela ihren Schwager an. „Meinst du etwa, Erziehung geht euch Männer nichts an?“ Sie brauchte ein Ventil für alles, was sich angestaut hatte: ihre ganze Verunsicherung wegen der Schwangerschaft und ihr Unvermögen, mit Martin vernünftig darüber zu reden. Von Mutter zu Vater. Es wurde ihr im selben Augenblick bewusst, dass sie Peter dafür büßen ließ, aber es war ihr egal.
„Julia ist doch den ganzen Tag mit dem Jungen zusammen. Ich seh' ihn ja nur abends kurz, bevor er schlafen geht. Deshalb trägt sie die größere Verantwortung für seine Erziehung – ist doch klar“, rechtfertigte er sich.
„So? Findest du?“, giftete Manuela.
„Ich weiß gar nicht, warum gerade du dich so aufregst. Wer hat ihm denn das blöde Feuerwehrauto geschenkt?“
„Also, das ist ja wohl das Letzte!“
„Hört auf zu streiten“, mischte sich die Oma ein. „Das ist doch alles halb so schlimm. Auch ihr wart als Kinder nicht immer die reinsten Engel, Julia und du. Und Peter sicher auch nicht?“
Ihr Schwiegersohn grinste nur.
„Peter macht es sich wirklich zu einfach, finde ich“, kartete Manuela nach, allerdings in etwas versöhnlicherem Tonfall. Kurz darauf wechselte sie das Thema: „Wisst ihr was? Ich geh' jetzt nach oben und lese Tobias eine Gutenachtgeschichte vor. Vielleicht schläft er dann ein.“
Doch sie kam nicht mehr dazu, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, denn in diesem Moment klingelte ihr Handy.
„Wer kann denn das sein, am Heiligen Abend?“, fragte Manuelas Mutter und schaute ihre Tochter beunruhigt an.
Wahrscheinlich Martin, dachte die, stand auf und ging mit dem Handy in die Küche, um ungestört telefonieren zu können. Sie schaute auf das Display, aber es wurde keine Nummer angezeigt. Mit einem bangen Gefühl drückte sie auf die grüne Taste. „Ja, bitte, Manuela Herder.“
„Marquardt hier. Es ist mir furchtbar unangenehm, Sie am Weihnachtsabend zu stören, Frau Herder“, kam es vom anderen Ende der Leitung, „aber wir haben ein großes Problem.“
Manuelas banges Gefühl verstärkte sich.
„Eigentlich sollte Herr Klumpp heute die Nachtschicht im Schrankenwärterhaus zwischen Niederaulbach und Welzheim übernehmen, aber der Arme hatte einen Autounfall. Sie wissen ja, die schneeglatten Straßen. Jedenfalls hat er sich verletzt.“
„Um Gottes Willen!“
„Zum Glück nichts Ernstes. Doch seinen Dienst kann er leider nicht antreten. Deshalb bitte ich Sie für Herrn Klumpp einzuspringen.“
„Ich?“
„Ja, Sie sind meine letzte Hoffnung. Ich hab' schon drei Kollegen vergeblich versucht zu erreichen. Zwei weitere haben mir abgesagt. Und irgendwie kann ich das ja sogar verstehen. Besonders wenn man Familie hat und so. Deshalb, Frau Herder, sind Sie die einzige, die noch in Frage kommt.“
„Aber ich hab' schon ewig nicht mehr die Schranken bedient. Verstößt das nicht gegen die Vorschriften?“
„Na ja, im Prinzip schon, aber dies ist ein Notfall. Und Sie kriegen das schon hin. Als Azubi waren Sie doch mal für eine Weile dort eingesetzt, wenn ich mich nicht irre.“
„Ja, schon...“
„Vielen Dank, dass Sie mir aus der Patsche helfen. Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen.“
Manuela blieb die Spucke weg.
„Also dann, um zehn geht’s los. Seien Sie am besten eine halbe Stunde früher da, damit Herr Eisenhuth, der heute die Spätschicht macht, Sie vor seinem Feierabend noch kurz einweisen kann. Schaffen Sie das?“
„Aähm...“
„Dann einen schönen Abend und fröhliche Weihnachten.“ Ein Knacken in der Leitung. Ihr Gesprächspartner hatte aufgelegt.
Als sie aus der Küche zurück ins Wohnzimmer kam, fragte ihre Mutter: „Wer war das, Kind?“
„Herr Marquardt“, sagte Manuela tonlos, „mein Chef. Und er hat mich eiskalt erwischt.“