Читать книгу Stille Nacht, höllische Nacht - Thomas R. Behrendt - Страница 5
Оглавление18:22 h
„Ich glaub', ich nehm' den Fifty-fifty-Joker.“ Schwester Ellen sah ihre Mitspieler fragend an.
„Wenn es dir weiterhilft.“ Oberschwester Gertrud zuckte die Achseln. So oft hatten sie das Quiz schon gespielt, aber Schwester Ellen kapierte einfach nicht, in welcher Situation welcher Joker am sinnvollsten ist.
„Du kannst auch die Zuschauer befragen, also uns“, schlug Manfred Gerling vor, der dienstälteste Pfleger in der Psychiatrischen Klinik von Biedenstadt. Er meldete sich immer freiwillig an Heiligabend zum Dienst. Auf ihn wartete niemand zu Hause. Der Mann mit dem imposanten Schnauzbart war verwitwet und arbeitete nebenan in der Geschlossenen Abteilung. Aber jetzt hatte er Pause und leistete den Kolleginnen in der Offenen ein wenig Gesellschaft. Ein Stündchen bei Tee und Weihnachtsplätzchen – und natürlich bei der liebsten Pausenbeschäftigung der Schwesternrunde: bei Wer wird Millionär?
„Meinst du wirklich?“, fragte Schwester Ellen jetzt wieder unsicher.
„Das musst du schon selbst entscheiden.“ Oberschwester Gertrud wurde langsam ungeduldig. „Es geht schließlich um 32.000 Mark.“ Ein Wunder, dachte sie, dass ihre junge Kollegin überhaupt so weit gekommen war. Meistens scheiterte Ellen schon bei den leichteren Fragen. Eine typische Blondine eben, ging es der Oberschwester durch den Sinn, und sie musste unwillkürlich lächeln. Nicht die Allerhellste, unsere Ellen, aber dafür hat sie das Herz auf dem rechten Fleck. Das muss man ihr lassen.
„Dann nehm' ich den Publikums-Joker.“ Schwester Ellen schaute herausfordernd in die Runde. „Ihr müsst aber ehrliche Antworten geben.“
„Klar doch“, sagte Oberschwester Gertrud.
„Also, nochmal: Wo findet man das Schloss Christiansborg?“, las Dr. Alexander Braun, der junge Assistenzarzt vor. „A: in Oslo; B: in Stockholm; C: in Kopenhagen; oder D: in Malmö?“
„Ich hab', ehrlich gesagt, keine blasse Ahnung“, sagte Schwester Ursula. „Das müsstest du doch wissen.“ Sie schaute zu ihrer Kollegin Eva hinüber. „Du liest doch immer in den Illustrierten die Geschichten über die Königshäuser.“
Schwester Eva runzelte nur die Stirn. „Ich weiß es aber auch nicht.“
„Ihr müsst trotzdem einen Tipp abgeben“, belehrte sie die Oberschwester.
„Ich glaube, es ist Oslo“, sagte der schnauzbärtige Pfleger.
„Bist du sicher?“, wollte Schwester Ellen wissen.
„Nein, sicher bin ich mir nicht.“
„Ich denke, es ist Malmö“, meinte der junge Assistenzarzt.
„Dann schließ' ich mich Ihnen an“, sagte Schwester Ursula. „Sie haben schließlich studiert.“
„Aber nicht Geografie“, wandte Dr. Braun ein.
„Ich tippe auf Stockholm“, verkündete die Oberschwester. „Aber ich bin mir auch nicht sicher.“
„Na, toll“, sagte Schwester Ellen. „Ihr seid mir ja eine schöne Hilfe. Zwei Stimmen für Malmö, eine für Oslo und eine für Stockholm. Wisst ihr was? Ich traue keinem von euch. Ich entscheide mich für Kopenhagen. Also Antwort C.“
„Bist du verrückt?“, fragte Schwester Ursula.
„Vielleicht ja. Vielleicht auch nicht. Wir werden ja sehen, wer Recht hat. Also, wie heißt denn nun die Lösung?“
Alex Braun drehte die Karte um und gab einen heiseren Kiekser von sich. „Das gibt’s doch gar nicht!“, stieß er überrascht hervor. „Schwester Ellen hat Recht. Schloss Christiansborg liegt tatsächlich in Kopenhagen.“
„Echt?“, freute sich Ellen. „Seht ihr. Ein bisschen Verrücktheit hat noch keinem geschadet.“
Da musste sogar Oberschwester Gertrud grinsen.
„Die nächste Frage bitte, Alex. Diese Glückssträhne muss ich ausnutzen.“ Schwester Ellen biss in ein Anisplätzchen und krümelte die Tischdecke voll. Die Oberschwester warf ihr einen missbilligenden Blick zu, aber Ellen war zu abgelenkt, um es zu bemerken.
„Okay, 64.000“, sagte der Doktor, „32.000 haben Sie schon sicher. Die nächste Frage können Sie also ganz ruhig angehen.“
„Alex, Sie reden genau wie Günther Jauch“, sagte Schwester Ellen, deren Schwäche für den gutaussehenden Assistenzarzt längst kein Geheimnis mehr war. Die halbe Klinik tuschelte schon darüber. Und auch er schien, was die hübsche kleine Ellen betraf, nicht gänzlich abgeneigt.
„Es ist gleich halb sieben. Ich müsste mal meinen Kontrollgang machen“, sagte Oberschwester Gertrud und erhob sich umständlich von ihrem Stuhl. In dem kleinen Aufenthaltsraum war es so eng, dass sie den Tisch verschieben musste, um überhaupt aufstehen zu können.
„Aber doch nicht mitten im Spiel!“, quengelte Ellen. „Warte doch noch ein paar Minuten. Wir sind bestimmt gleich fertig.“
„Nein, nein, ihr könnt ja weiterspielen. In einer Viertelstunde bin ich eh zurück.“ Und die Oberschwester verließ schlurfend den Raum. Der Klang ihrer Holzpantinen verebbte erst, als sie im Flur um die Ecke gebogen war.
Dr. Braun las die nächste Frage vor: „Welche dieser Personen gibt es wirklich? A: Cyrano de Bergerac; B: Sherlock Holmes; C: Tarzan; oder D: der Graf von Monte Cristo?“
„Ach, du Schande“, entfuhr es Schwester Ellen. „Wer soll denn so was wissen?“
„Für 64.000 Mark muss man schon mal ein bisschen was bringen“, neckte Schwester Eva.
„Cyrano de Bergerac – das ist doch der Typ mit der langen Nase“, sagte Schwester Ursula, „da hab' ich mal einen Film gesehen. Aber der kann es ja wohl nicht sein.“
„Pssst“, machte Dr. Braun und legte den Finger an die Lippen. „Nicht vorsagen.“
„Lassen Sie nur, Alex“, winkte Schwester Ellen ab. „Wie war das noch mal? Sherlock Holmes? Das ist dieser Detektiv. Den kenne ich. Hat's den wirklich gegeben? Glaub' ich nicht. Und Tarzan? Wär' ja schön – so ein toller Mann. Aber wahrscheinlich hat's den auch nicht gegeben.“ Sie blickte die beiden anderen Schwestern fragend an, aber die zuckten nur die Achseln. „Was war D noch gleich?“
„Der Graf von Monte Cristo“, wiederholte der Doktor.
„Den könnte es gegeben haben“, sinnierte Ellen vor sich hin. „Vielleicht“, fügte sie nachdenklich hinzu, „aber ich geh' wieder volles Risiko und nehm' diesen komischen Typ von Antwort A.“
„Cyrano de Bergerac?“
„Ja, genau den.“
„Die spinnt total“, raunte Schwester Eva Schwester Ursula zu, doch ehe ihre Kollegin noch etwas erwidern konnte, hörten sie Alex Braun wieder kieksen.
„Sie sind der helle Wahnsinn, Schwester Ellen“, sagte er verdutzt. „Das stimmt! Ich gratuliere Ihnen zu 64.000 Mark.“
„Wenn es doch nur echtes Geld wäre“, seufzte Ellen, „das könnte ich gut gebrauchen.“
„Was würden Sie denn mit dem Geld machen?“, wollte Alex wissen.
„Jetzt reden Sie schon wieder wie Günther Jauch. Aber um ehrlich zu sein, ich weiß es gar nicht. Irgendwas würde mir schon einfallen.“
„Oh ja, mir auch“, sagte Schwester Eva. „Ein neues Auto könnten wir dringend gebrauchen. Unser altes war letzten Monat dreimal in der Werkstatt. Sie finden einfach nicht den Fehler.“
„Was für ein Auto schwebt Ihnen denn vor?“, zeigte der junge Doktor artig Interesse.
„Na, so ein toller Porsche, wie Sie ihn fahren, könnte mir schon gefallen“, meinte Eva und schaut Alex spöttisch an. In der Klinik zerrissen sie sich die Mäuler über den knallroten Sportwagen, den Dr. Braun fuhr. Selbst der Chefarzt hatte schon seine Verwunderung darüber ausgedrückt, dass sich ein junger Assistenzarzt einen so teuren Wagen leisten konnte. Hab' ich im Preisausschreiben gewonnen, pflegte Alex auf Anfrage meistens zu sagen. Aber das nahm ihm keiner ab.
Schwester Ellen fischte jetzt noch ein Anisplätzchen aus der Keksdose und forderte Alex Braun zum Weitermachen auf.
„Ja, bringen wir es hinter uns“, mischte sich Pfleger Manfred ein. „Meine Pause kann ich auch nicht ewig ausdehnen. Die wundern sich drüben bestimmt schon, wo ich so lange bleibe.“
„Also, Schwester Ellen, 125.000. Eine Sportfrage. Kennen Sie sich mit Sport aus?“
„Klar doch, wie verrückt!“, stöhnte sie. „Ich liebe Sport. Schießen Sie los.“
„Wer gewann bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney die erste Goldmedaille für Deutschland?“
„Rosi Mittermaier?“, witzelte Schwester Ursula.
Dr. Braun ließ sich nicht beirren. „A: Stev Theloke; B: Ingo Lehmann; C: Stephan... Wie heißt der?“ Alex zeigte Manfred Gerling die Karte. „Das kann ich gar nicht aussprechen. Wuckowitsch oder Wutschkowitsch oder so ähnlich.“
„Wuckowitsch, glaub' ich“, sagte Manfred.
„Buchstabieren Sie doch“, schlug Schwester Eva vor.
„V – U – C – K – O – V – I – C.“
„Oh, Gott“, stöhnte Ellen. „Und was ist D?“
„D: Robert Bartko.“
„Ich geb' auf. Ich kenne keinen von denen. Nicht diesen Wutschko-Dingens und die anderen auch nicht.“
„Sie haben immer noch den Fifty-fifty-Joker. Vergessen Sie das nicht“, versuchte Alex sie aufzumuntern.
„Ach, stimmt ja. Soll ich es also wagen?“, fragte Ellen in die Runde.
„Nee, hör' lieber auf. Dann kann ich endlich wieder beruhigt an die Arbeit gehen“, meinte Manfred, nicht ganz überzeugend. Am Heiligen Abend konnte er seine Pause ruhig mal ein paar Minuten überziehen.
„Los, mach' schnell“, trieb Schwester Eva ihre Kollegin an. „Fifty-fifty.“
„A und C fallen weg“, sagte der Doktor. „Theloke und dieser Wutschko.“
„Wuckowitsch“, verbesserte ihn Manfred. „Soweit ich weiß, ist das ein Triathlet. Jetzt kann ich es ja sagen.“
„Egal. Jedenfalls bleiben B und D übrig. Was ist, Schwester Ellen, Lehmann oder Bartko?“
„Mhmm.“
„Sag' irgendwas, damit Manfred 'rüber auf seine Station gehen kann“, drängelte Ursula.
„Du hast gut reden.“ Ellen ließ sich Zeit. Die anderen warteten ungeduldig. Es war mucksmäuschenstill im Raum.
Plötzlich hörten sie hastige Schritte auf dem Flur. Das mussten die Holzpantinen der Oberschwester sein. Alle schauten sich fragend an. Nur Ellen war in Gedanken noch bei dem Quiz und bei der 125.000-Mark-Frage.
„Schwester Gertrud hat's aber eilig mit dem Weiterspielen“, grinste Alex Braun. In diesem Moment stürzte sie zur Tür herein. Sie war ganz außer Atem.
„Ein Patient ist verschwunden“, stieß sie aufgeregt hervor, „Herr Karabük aus Zimmer 115.“
„Karabük?“, fragte Schwester Eva. „Der Selbstmörder, der sich die Pulsadern aufgeschnitten hat?“
„Ja. Er ist abgehauen“, fauchte Schwester Gertrud. „Sein Bett ist leer, und seine Sachen sind auch weg.“
„Was sagt sein Bettnachbar?“, fragte Eva weiter.
„Der ist gestern entlassen worden. Karabük war allein im Zimmer.“
„Ich kann das alles nicht glauben“, mischte sich der Doktor ein. „Der Patient war doch fixiert.“
„Dann hat er sich eben losgemacht“, erwiderte die Oberschwester wütend. „Oder seine Fixierung war nicht richtig fest.“ Sie schaute Schwester Ellen vorwurfsvoll an. „Das war doch deine Aufgabe.“
Ellen merkte jetzt erst auf. „Ich?“ Alle starrten sie entgeistert an.
„Ja, du! Du solltest Herrn Karabük mit den Schlaufen ans Bett binden. Hast du es nun getan oder nicht?“
„Ja, hab' ich.“
Die Oberschwester atmete erleichtert auf.
„Aber dann hab' ich die Schlaufen wieder gelöst“, sagte Ellen kleinlaut und blickte betreten zu Boden.
„Du hast was?!“ Schwester Gertrud war fassungslos. Ein klarer Verstoß gegen eine ärztliche Anordnung. Das durfte sich auf ihrer Station niemand herausnehmen, denn es kam einer Revolte gleich.
„Weil doch heute Weihnachten ist“, jammerte die Beschuldigte. „Herr Karabük tat mir Leid. Er wollte doch so gerne aus dem Fenster sehen und dem Schneetreiben zuschauen. Diese kleine Freude konnte ich ihm nicht verwehren. Es ist doch Weihnachten.“
„Was sagen Sie dazu, Dr. Braun?“, fragte die Oberschwester. Die kleine Ellen muss wahnsinnig sein, dachte sie bei sich. Ihre Dummheit kennt anscheinend keine Grenzen.
Alex schaute völlig verwirrt zwischen den beiden Schwestern hin und her. Ein Patient getürmt, während er die Aufsicht hatte. Das würde einen Riesenärger geben. Vor seinem geistigen Auge sah er den Chefarzt toben. Meine Karriere ist im Eimer, dachte er. „Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, Schwester Ellen?“, fragte er kopfschüttelnd. Seine Sympathie für die kleine Blonde hatte sich in Luft aufgelöst.
„Der Mann war doch nicht gefährlich.“ Die Angesprochene kämpfte mit den Tränen.
„Das kannst du nicht beurteilen“, wies Gertrud sie zurecht. „Du bist kein Arzt. Herr Karabük hat schließlich versucht sich umzubringen. Er kann es jederzeit wieder tun.“
„Ahmed Karabük leidet unter Wahnvorstellungen“, sagte der Doktor. „Da weiß man nie.“
„Genau“, bestätigte die Oberschwester.
Ellen ließ ihren Tränen jetzt freien Lauf, doch der junge Arzt kannte kein Mitleid mehr. „Wenn der Patient sich etwas antut, mache ich Sie dafür verantwortlich. Das schwör' ich Ihnen.“ Er schaute Schwester Gertrud an. Die nickte bestätigend und sagte dann: „Auf alle Fälle müssen wir sofort etwas unternehmen.“
„Wir sollten die Polizei verständigen“, schlug Schwester Ursula vor.
„Und den Chefarzt, Prof. Dombach“, fügte Schwester Eva hinzu.
Alex Braun wurde leichenblass.
„Erst lasst uns mal hier im Krankenhaus auf die Suche gehen“, übernahm Manfred Gerling das Kommando. „Vielleicht hat dieser Karabük das Gebäude noch gar nicht verlassen.“
Schwester Ellen und Dr. Braun warfen ihm einen dankbaren Blick zu und stürzten fast gleichzeitig aus dem Raum. Beinahe wären sie in der Tür zusammengeprallt.