Читать книгу Stille Nacht, höllische Nacht - Thomas R. Behrendt - Страница 15
Оглавление23:21 h
„Treten Sie zurück, Mann!“ Kriminalhauptkommissar Ernst Rohde fuhr das Kamerateam des privaten Fernsehkanals TVX unwirsch an. „Gehen Sie gefälligst hinter das Absperrband.“
„Ich tu' hier nur meine Arbeit“, sagte der Kameramann und trat noch einen Schritt näher an die Leiche heran.
„Und Sie behindern damit unsere Arbeit“, gab der Kommissar zurück. Er winkte einen Kollegen herbei. „Schäfer! Sehen Sie zu, dass die Herren von Sex-and-crime-TV hier verschwinden, bis die Spurensicherung fertig ist.“
„Ja, Chef, mit Vergnügen“, sagte Harry Schäfer. Der junge Kriminalobermeister liebte solche Auftritte. Da konnte er endlich den knallharten Bullen spielen, wie er ihm im Kino vorgelebt wurde. Deshalb war er damals auch zum SEK gegangen. Aber nach einem halben Jahr hatten sie ihn 'rausgeschmissen. Nach seinem ersten größeren Einsatz: Wegen eigenmächtigen Handelns, lautete die Begründung. Lachhaft! Denn er hatte wenigstens gehandelt und nicht nur dumm herumgestanden wie der Rest der Truppe. Okay, dass der Einsatz zum Desaster geworden war und der Bankräuber die Geisel erschossen hatte, war dumm gelaufen. Aber doch nicht seine Schuld! Trotzdem hatten sie einen Sündenbock gesucht und ihn in dem Neuen gefunden. Harry musste seinen Dienst beim Spezialeinsatzkommando quittieren und zurück in die Provinz. Ausgerechnet in seine Heimatstadt, wo ihn jeder kannte und wo er täglich vor Augen geführt bekam, dass er beim SEK grandios gescheitert war. Dirty Harry nannten ihn seine Kollegen spöttisch – in Anlehnung an Clint Eastwoods Paraderolle. Aber Schäfer war es egal. Er tat auch weiter, was getan werden musste und was er für richtig hielt.
„Los, haut ab, ihr Wichser“, schnauzte er jetzt das Fernsehteam an, „sonst gibt’s hier gleich noch mehr Tote.“ Er griff in seine Lederjacke und tat so, als würde er die Dienstwaffe aus dem Schulterhalfter ziehen.
„Ho, ho, ho! Wollen Sie uns etwa erschießen?“, spottete der Kameramann.
Harry Schäfer wiegte nur den Kopf hin und her und schürzte die Lippen, als würde er es sich ernsthaft überlegen.
„Schon mal was von Pressefreiheit gehört?“, protestierte der Kameramann, wich aber vorsichtshalber drei Schritte zurück. Er nahm die Kamera von der Schulter und raunte seinem Assistenten zu: „Komm', Christian, lass' uns gehen, bevor dieser Rambo völlig ausrastet. Ich hab' eh alles im Kasten.“ Dann verzogen Sie sich hinter das Absperrband und drehten noch zwei, drei Totalen aus der Entfernung.
Kommissar Rohde beugte sich über die blutverschmierte Leiche des Taxifahrers. Er hatte ja schon viel gesehen in all seinen Jahren bei der Kripo. Aber bei diesem Anblick musste er würgen. Der Mörder hatte seinem Opfer die Halsschlagader durchtrennt. Literweise war das Blut umhergespritzt. Das Innere des Taxis sah aus wie ein Schlachthaus. Der Täter musste sich dabei selbst besudelt haben.
Inzwischen wussten sie mehr über den Toten: Sein Name lautete Mustafa Agouni. Er war gebürtiger Marokkaner mit deutschem Pass, 30 Jahre alt und ledig.
Also wenigstens keine trauernde Witwe, dachte der Kommissar. Gott sei Dank! Er hasste es, wenn er den Hinterbliebenen von Mordopfern die schreckliche Nachricht überbringen musste. Er stand dann jedes Mal unter dem Druck die passenden Worte zu finden. Trost zu spenden. Und darin war er ein absoluter Versager. Dessen war er sich bewusst. Doch diesmal würde ihm die peinliche Situation glücklicherweise erspart bleiben.
„Hier ist der Augenzeuge, Chef“, sagte Kriminalobermeister Schäfer und zeigte auf einen bärtigen Mann im zerschlissenen Kapuzen-Parka. Ein Obdachloser. Das erkannte der Kommissar auf den ersten Blick. Als der Mann vor ihm stand, konnte er auch die Alkoholfahne riechen. Rohde rümpfte die Nase.
„Wollen Sie gleich mit ihm reden oder erst später?“, fragte Harry Schäfer.
„Nein, nein, sofort.“ Rohde überwand seinen Ekel. Jetzt kam es darauf an, mehr über den Täter zu erfahren. „Haben Sie schon die Personalien aufgenommen, Schäfer?“
„Klar, Chef.“
Ernst Rohde wandte sich an den Zeugen und bemühte sich sogar um einen freundlichen Tonfall. „Sie sind also Herr...?“
„Schenk. Gustav Schenk.“
„Okay, Herr Schenk. Dann erzählen Sie mir mal, was Sie gesehen haben.“
„Na ja, da war dieses Taxi... dieses Taxi...“ Er deutete auf den cremefarbenen Mercedes, in dem sich die Bluttat ereignet hatte.
„Jaaa?“, fragte Kommissar Rohde gedehnt.
„...und es hielt plötzlich an. Vollbremsung. Dann hat jemand gehupt.“
„Wo waren Sie denn zu dem Zeitpunkt?“
„Ich?“
„Ja, Sie.“
„Ich lag da drüben im Eingang zum Ladenzentrum.“ Gustav Schenk deutete auf die andere Straßenseite. Gut dreißig Meter entfernt. Dazwischen befanden sich vier Fahrspuren und ein Grünstreifen – jetzt natürlich ganz in Weiß.
„Aha. Sie lagen also da?“
„Ja, in meinem Schlafsack. Aber als ich die Hupe hörte, hab' ich mich sofort aufgerichtet...“
„So, aufgerichtet?“, wiederholte Rohde. „Und dann?“
„Dann hab' ich einen lauten Schrei gehört.“
„Einen Schrei?“
„Ja, ein Mann hat geschrien. Wie am Spieß.“
„Was hat er geschrien?“
„Nichts Bestimmtes. Einfach geschrien.“
„Aha. Und wie ging es weiter?“
„Dann ging die hintere Tür von dem Taxi auf und jemand sprang heraus.“
„War es ein Mann?“
„Ich glaube schon.“
„Wie sah er aus, der Mann?“
„Schwer zu sagen...“
„Nun strengen Sie Ihr Hirn mal ein bisschen an. Als Sie mit dem Radioreporter gesprochen haben, waren Sie doch auch sehr auskunftsfreudig, wenn ich richtig informiert bin.“
„Na ja...“
„Der Mann soll ein Südländer gewesen sein, mit dunklen Haaren...“
„Kann schon sein...“
„Kann sein? Oder haben Sie es gesehen?“
„So genau nun nicht...“
„Ich verstehe.“ Der Kommissar seufzte. Es war immer das Gleiche mit diesen Zeugen. Vor den Presseleuten wollten sie sich wichtig tun. Aber wenn es ernst wurde, zogen sie den Schwanz ein. Darum wechselte er das Thema: „Wo ist der Mann hingelaufen?“
„Die Lindenallee 'runter. Richtung Bahnhof.“
„Und da sind Sie sicher?“
„Ich glaub' schon...“
„Wieso haben Sie nicht sofort die Polizei verständigt?“
„Ich konnte doch nicht wissen, dass der Kerl den Taxifahrer umgebracht hat.“
„Was haben Sie denn gedacht?“
„Nichts. Ich hab' mich wieder in meinen Schlafsack verkrochen und...“
„Was – und?“
„Und nichts. Ich wollte meine Ruhe haben.“
Kommissar Rohde war fassungslos. Am liebsten hätte er ihn geohrfeigt. Diesen verdammten Penner! „Erst als der Reporter vom Radio kam, sind Sie offenbar wieder munter geworden.“ Sein Sarkasmus war unüberhörbar.
„Nein, schon früher“, erwiderte Schenk kleinlaut. „Da war auf einmal ein zweites Taxi. Der Fahrer drückte ein paar Mal auf die Hupe. Dann stieg er aus und sah nach, was mit seinem Kollegen los war. Und ein paar Minuten später herrschte hier ein Riesentrubel. Polizei. Krankenwagen. Viele Schaulustige. Und die Presse.“
„Ja, ja, die Presse.“
„Dieser Typ vom Rundfunk, der kam zu mir 'rüber. Und dann hat er mir sein Mikrofon unter die Nase gehalten.“
„Und Sie haben die Gelegenheit ausgenutzt...“
„Aber nein! Er hat mir die Worte in den Mund gelegt. Ich hab' eigentlich gar nichts gesagt. Nur ab und zu genickt.“
„Na schön, Herr Schenk.“ Ernst Rohde fühlte, wie sein Ekel wieder die Oberhand gewann. „Das reicht erst mal für den Augenblick. Sie halten sich selbstverständlich zu unserer Verfügung, falls wir weitere Fragen an Sie haben.“ Er pfiff Harry Schäfer herbei, der lässig auf der Motorhaube seines Dienstwagens hockte und eine Zigarette rauchte. „Bringen Sie den Mann weg. Ich kann ihn nicht mehr sehen. Holen Sie mir stattdessen diesen Taxifahrer, der die Leiche entdeckt hat.“
„Okay, Chef.“
Doch auch von dem zweiten Zeugen erfuhr Hauptkommissar Rohde nichts, was er nicht schon wusste. Die Informationen über den Täter waren dünn, äußerst dünn: Sehr wahrscheinlich handelte es sich um einen Mann; wahrscheinlich blutbefleckt; vielleicht dunkelhaarig; womöglich war er zu Fuß in Richtung Bahnhof geflüchtet.
Natürlich hatten sie dort längst nach ihm gesucht. In der Bahnhofshalle. In der Bahnhofskneipe. Auf dem Bahnhofsklo. Nichts. Der Kerl blieb spurlos verschwunden.