Читать книгу Stille Nacht, höllische Nacht - Thomas R. Behrendt - Страница 14
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„Trödel' nicht herum. Hol' endlich deine Mütze und deine Handschuhe.“
„Ja, Mama, gleich.“
„Nicht gleich. Sofort!“ Renan Karabük war nervös. Jeden Augenblick konnte Ahmed vor der Tür stehen. Und bis dahin wollte sie längst fort sein. Viel zu viel Zeit hatte sie schon verstreichen lassen, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen.
Sie würde zu ihrem Cousin nach Köln fahren. Er schien zwar von der Idee nicht begeistert zu sein, hatte sie seinem Zögern am Telefon entnommen, aber es war eine Sache der Familienehre. Für eine Weile konnte sie bei Mehmet unterkommen. Natürlich war dies keine Dauerlösung, aber auch die würde sich finden mit der Zeit. Hauptsache, sie und der Junge waren erst mal aus der Gefahrenzone.
Das gepackte Köfferchen stand zur Abreise bereit. Nur ihr lieber Herr Sohn ließ sich wieder mal alle Zeit der Welt. Renan lief ihm ins Kinderzimmer hinterher und durchwühlte die Schubladen in der Kommode. Die Mütze tauchte auf, die Handschuhe blieben verschollen. Macht nichts, dachte sie, dann lassen wir sie eben hier. Soll er doch die Hände in die Taschen stecken. „Komm jetzt, wir müssen los.“ Sie packte Bülent am Kragen und schob ihn vor sich her zur Wohnungstür.
„Wo gehen wir denn hin, Mama?“, fragte der Junge verstört.
„Wir fahren zu Onkel Mehmet.“
„Warum?“
„Weil wir ihn schon lange nicht mehr besucht haben.“
„Ich mag aber nicht.“
„Bitte, Bülent. Wir wollen jetzt nicht diskutieren. Ich hab' gesagt, wir fahren zu Onkel Mehmet und damit basta!“ Sie öffnete die Tür und drängte den Jungen hinaus. Dann nahm sie ihn bei der Hand und hastete die Treppe hinunter. Als sie im Erdgeschoss angelangt waren, hörte sie, wie die Haustür von außen aufgeschlossen wurde. Renan erstarrte. Ahmed, dachte sie. Allah, steh' mir bei! Doch es war nur der Nachbar aus dem vierten Stock.
„Fröhliche Weihnachten“, sagte er im Vorbeigehen. Als Renan nicht gleich reagierte, grummelte er: „Ach so, Sie sind ja Moslems.“ Er deutete verlegen auf ihr Kopftuch. „Bitte um Entschuldigung. Dann schönen Abend noch.“
Renan wollte dem netten Nachbarn eine höfliche Antwort geben, aber vor lauter Aufregung fiel ihr nichts Passendes ein. Stumm riss sie ihm die Türklinke aus der Hand und beeilte sich mit Bülent das Haus zu verlassen.
Ein eisiger Wind schlug ihnen entgegen. Er wirbelte die Schneeflocken wild durcheinander.
„Steck' deine Hände in die Taschen“, forderte sie ihren Sohn auf. „Sonst werden sie ganz kalt.“ Dann stapfte sie voran zur Bushaltestelle.
Auf halbem Wege hielt sie plötzlich inne. Was, wenn Ahmed auch den Bus genommen hat? Wir gehen besser zu Fuß zum Bahnhof. Und sie schlug eine andere Richtung ein.
Fast zwanzig Minuten brauchten sie bis zur kleinen Kaldenbacher Bahnstation. Mehrfach mussten sie unterwegs kurze Pausen einlegen. Bei dem hohen Schnee war das Laufen doppelt so anstrengend. Bülent quengelte herum, klagte über müde Beine und nasse Füße. Renan musste ihn immer wieder antreiben. Mit Drohungen, mit Versprechungen. Sie wusste, sie mutete dem Kleinen einiges zu, aber es war zu seinem eigenen Besten. Sie liebte ihren Sohn abgöttisch und durfte nicht zulassen, dass sein Vater ihm womöglich etwas antat. Die Angst verlieh ihr übermenschliche Kräfte. Und wenn alles glatt ging, hatten sie es ja bald geschafft. In eins, zwei Stunden etwa konnten sie bei ihrem Cousin in Köln sein. Dann würde auch Bülent seinen dringend benötigten Schlaf bekommen. Sie wären endlich in Sicherheit.
Der Kaldenbacher Bahnhof war vollkommen verwaist. Keine Menschenseele zu sehen. Auf dem zugigen Bahnsteig war es finster und unheimlich. Renan hielt nach einem Fahrplan Ausschau. Aber sie konnte keinen entdecken. Nur einen leeren Schaukasten mit zerbrochener Glasscheibe. Trotzdem, sagte sie sich. Irgendwann muss ja ein Zug hier halten.
Bülent blickte gespannt zu ihr auf. „Mama, darf ich mit der Eisenbahn fahren?“
„Ja, wenn du brav bist.“
„Wann kommt die Eisenbahn? Mir ist so kalt.“
„Es kann nicht mehr lange dauern.“ Renan wischte den Schnee von einer Bank, setzte sich und nahm ihren Sohn auf den Schoß. Sie befühlte seine kleinen Hände und stellte erschrocken fest, wie kalt sie waren. Sie fasste ihm an die Stirn und spürte, wie heiß sie war. Bülent hatte ganz offensichtlich leichtes Fieber. Das arme Kind tat Renan unendlich Leid.
„Mama?“, flüsterte Bülent.
„Ja, mein Schatz.“
„Warum kommt Papa nicht mit zu Onkel Mehmet?“
„Papa muss erst gesund werden.“
„Wann wird Papa wieder gesund?“
Renan zuckte nur die Achseln. Wenn ich das wüsste, dachte sie. Doch bevor sie sich eine gute Antwort überlegt hatte, war Bülent sanft entschlummert.